Food Riots sind keine „chaotischen Gewaltausbrüche“
Erschienen in der IMI-Zeitschrift AUSDRUCK (Februar 2010)
Klaus Pedersen
Die Zukunft verheißt nichts Gutes. Experten rechnen mit einer Verdopplung der Zahl der chronisch hungernden Menschen bis zum Jahr 2030.1 Das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen im Dezember 2009 und das kaum überraschende Beharren auf den bisherigen Positionen der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik seitens der führenden Industrieländer lassen vermuten, dass die Zuspitzung der Welternährungskrise noch dramatischer verlaufen wird als bisher eingestanden – ein Trend, der Erinnerungen an die Hungerrevolten der jüngsten Zeit wach ruft. In den Jahren 2007/2008 wurde über „Food Riots“ in 39 Ländern berichtet. Zeitliche Dichte und globale Verbreitung dieser Ereignisse waren beispiellos und weckten auf unsanfte Weise entsprechende Sicherheitsbedenken in den Zentren der Macht. Da die Wiederkehr von Hungerrevolten nur eine Frage der Zeit ist, macht es Sinn, sich mit diesem Thema auch dann zu beschäftigen, wenn es nicht unmittelbar die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht.
Die Sorgen der Eliten
„Wenn es zu einem Klassenkampf kommt, dann unterminiert das die Stabilität der Gesellschaft“, konstatierte Ifzal Ali, Chef-Ökonom der Asiatischen Entwicklungsbank, in Bezug auf die Welle von Food Riots.2 Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt einen zweistufigen Prozess zu erkennen: zunächst die Entstehung einer Versorgungskrise (Versorgungsengpässe, Preisanstieg), gefolgt vom Ausbruch des Konflikts. Sie ruft nach „umfassenden Maßnahmen zur politischen Stabilisierung“, ohne zu verraten, was sie bei der Aufzählung der Maßnahmen mit „last but not least stabilen effektiven Governance-Strukturen“ meint.3 Doch das „Modell Haiti“, bei dem jetzt die US-Streitkräfte jene „Stabilisierung“ vollenden, die nach den Hungerprotesten im April 2008 von UNO-Truppen begonnen wurde,4 lässt erahnen, worum es geht. Das Online-Magazin NATO Brief widmete im Mai 2008 eine komplette Ausgabe diesem Thema.5 Drei Hauptsorgen wurden in den Beiträgen zum Ausdruck gebracht: Erstens wurde die Zunahme sozialer und politischer Unruhen in vielen Ländern als die „alarmierendste und unmittelbare Folge“ der Nahrungsmittelkrise bezeichnet.6 „Früher oder später werden wahrscheinlich zig, wenn nicht hunderte Millionen reagieren“, wenn sie erleben, dass die Lebensmittel für sie aufgrund der Preisentwicklung außer Reichweite rücken.5 Zweitens wurde die Sorge artikuliert, dass sich „enttäuschte junge Männer“ radikalen Lösungen zuwenden könnten. „Das würde … kurzfristig einen Einfluss auf unsere Soldaten haben und mittel- bis langfristig unsere eigene Sicherheit beeinflussen.“5 Teil dieser radikalen Lösungen seien Überfälle auf Lebensmitteltransporte, die – speziell in Afghanistan – im Rahmen des „Comprehensive Approach“ in die zivil-militärische Zusammenarbeit integriert sind. Afghanistan ist eines der vom Welternährungsprogramm (WFP) am stärksten unterstützten Länder. Dort hat es 30 Angriffe auf Nahrungsmitteltransporte des WFP allein im Jahr 2007 gegeben.7 Drittens entstanden bei den europäischen Regierungen Ängste vor einem erhöhten Migrationsdruck nicht nur durch Naturkatastrophen und die allgemeine soziale Misere in den Ländern des Südens, sondern nunmehr auch durch Preisexplosionen bei Lebensmitteln.8 Die reflexartige Reaktion der Institutionen auf solche Szenarien findet in Gebilden wie FRONTEX ihren Niederschlag.9
Historischer Rückblick
Food Riots hatten in Europa eine lange Tradition, die von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichte, bis sie dann durch die entstehenden Gewerkschaftsbewegungen abgelöst wurden. Die Food Riots von 2007/2008 bestätigen die von Walton und Seddon10 beschriebenen Gemeinsamkeiten zwischen den historischen Food Riots in Europa und den heutigen Hungerrevolten in den Ländern des Südens. Das vielleicht wichtigste Merkmal ist, dass das Schlüsselargument westlicher Sicherheitsstrategen, es handele sich um chaotische Gewaltausbrüche, nicht zutrifft. Mit dieser Behauptung wird jedoch die gewaltsame Unterdrückung derartiger Proteste gerechtfertigt. Deshalb soll nachfolgend diese Behauptung ausführlich untersucht und damit ihre Unhaltbarkeit belegt werden. Denn, was auf die historischen Brotrevolten zutrifft und für die Food Riots von 2007/2008 belegt werden kann, darf auch für die Proteste der Zukunft unterstellt werden: Zwar ist der konkrete Zeitpunkt des Beginns solcher Aktionen oftmals spontan (der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt). Doch bereits Thompson erkannte, dass Aktionen dieser Art einen kohärenten politischen Zweck verfolgen und „eine hoch komplexe Form der direkten Aktion darstellen, diszipliniert und mit klaren Zielvorstellungen.“11
Walton und Seddon, die ihre Analyse der Food Riots aus der Periode der vom Internationalen Währungsfonds verordneten Strukturanpassungsprogramme mit einem Rückblick auf die historischen Brotrevolten verbanden, kamen zu dem Schluss, dass die am besten belegte Tatsache jene ist, dass es sich bei den Food Riots nicht um „chaotische, gewalttätige Ausbrüche irrationaler Massen handelt, sondern um organisierte, zweckbestimmte Aktionen“, was sich ihrer Ansicht nach vor allem anhand der Selektion der Zielobjekte dieser Revolten belegen lässt.10 Die Protestierenden randalieren nicht wahllos, sondern richten ihren Zorn gegen bestimmte Personen und Institutionen, denen von den Massen die Verantwortung für die herrschenden Ungerechtigkeiten zugeschrieben werden. Organisiertheit und Selektivität der Aktionen sind auch für 2007/2008 dokumentiert.12
Die Riots von 2007/2008
Die landesweiten Proteste, die am 28. Februar 2008 in Kamerun begannen, waren ursprünglich von mehreren Transportgewerkschaften ausgerufen worden, die jedoch einen Tag später ihren Aufruf ängstlich zurücknahmen. Daraufhin wurden die Proteste von einer weitgehend „anonymen Masse“ Jugendlicher (meist mit Abitur oder Realschulabschluss) getragen, die sich als Moped-Taxifahrer mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen.13 Allein in der Wirtschaftsmetropole Douala wird ihre Zahl auf 42.000 geschätzt.14 Einerseits über Mobiltelefone gut vernetzt, hatten sie andererseits weder eine sichtbare Struktur noch erkennbare Führungspersönlichkeiten, auch keine nach außen vorgetragenen Forderungen. Doch sie koordinierten die Proteste so effektiv, dass die Millionenstadt Douala am Morgen des 25. Februars innerhalb einer Stunde lahm gelegt war. Diese Jugendlichen gehören laut Peltzer nicht zu den extrem marginalisierten Bevölkerungsteilen, sind aber ohne Perspektive und „im Übrigen auch diejenigen, die sich am ehesten an die Küsten Senegals und Mauretaniens aufmachen, um nach Europa zu gelangen.“13 Binnen kurzer Zeit breitete sich der Streik auf die zehn größten Städte aus, es kam zur Blockade der großen Überlandstraßen, und selbst der internationale Flughafen von Douala war zeitweise geschlossen. Ziel der Aktionen waren Rathäuser, Polizeikommissariate und Steuerbüros. Es kam zu zahllosen Attacken gegen französische Firmen und Firmen, die zum Clan des verhassten Präsidenten Paul Biya gehörten. Die Protestierenden brachten also ziemlich genau zum Ausdruck, wen sie meinten. Nach vier Tagen war die Revolte im Blut erstickt. Die mit massiver Gewalt unterdrückten Proteste kosteten nach Einschätzung der kamerunischen Menschenrechtsorganisation Maison des Droits de L’Homme 200 Menschenleben. Hinzu kamen Dutzende Schwerverletzte und 1.500 in Schnellverfahren Verurteilte.
Ende Februar 2008 gab es in Burkina Faso in den Städten Banfora, Bobo-Dioulasso, Ouhigouya und der Hauptstadt Ouagadougou militante Proteste gegen die drastisch steigenden Lebensmittelpreise und es wurde zu einem zweitägigen Generalstreik Anfang April aufgerufen. Während der Proteste in Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt des Landes, griffen die DemonstrantInnen Regierungsgebäude an und setzten Geschäfte, Autos und Tankstellen in Brand. Eine Regierungsdelegation wurde mit Steinen beworfen und verjagt. Am 15. März 2008 gab es in mehreren Städten große Kundgebungen, denen am 08. und 09. April der angekündigte Generalstreik folgte, der von den Organisatoren – einer nationalen Koordination, bestehend aus Gewerkschaftszentralen, autonomen Gewerkschaften sowie Gruppierungen sozialer Bewegungen – als enormer Mobilisierungserfolg gewertet wurde. Während des Generalstreiks kam es laut Polizeiangaben zu 264 Verhaftungen. Zugleich wurden aber dem Regime von Blaise Compaorés (der 1986 die Volksregierung von Thomas Sankara durch einen Putsch beseitigt hatte) Preissenkungen bzw. Preisfestschreibungen abgetrotzt, und die Importzölle für Nahrungsmittel wurden gesenkt. Es gab eine „informelle“ Blockade von Lebensmittelexporten, und ein Teil der strategischen Notvorräte der Regierung wurde in Umlauf gebracht, um den Preisdruck auf die Lebensmittel zu verringern.15
Die Demonstrationen in Haiti begannen am 3. April 2008 in Le Cayes, breiteten sich über andere Städte aus und erreichten am 7. April die Hauptstadt Port-au-Prince. Seit vielen Monaten war es zu einem Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel gekommen. Der Anblick von attackierten Gebäuden und Autos wurde zur Normalität. Die Menschenmengen machten ihrem Zorn über die Gleichgültigkeit der haitianischen Eliten Luft. Am 12. April trat Premier Jacques Edouard Alexis zurück, was allerdings nicht zu einem Politikwechsel führte – er wurde von den herrschenden Eliten als Sündenbock geopfert. Als er zuvor in einer Rede sagte, bei vielen Protestierenden handle es sich nur um Gangster und Drogendealer (eine Sichtweise, die von den internationalen Medien allgemein kolportiert wurde), eskalierten die Proteste. Einige DemonstrantInnen sagten, seit dem Staatsstreich 2004 habe sich ihre Situation dramatisch verschlechtert. Selbst unter einem nahezu totalen Embargo habe die damalige Regierung Aristide weiterhin subventionierte Nahrungsbanken in den ärmsten Slums unterhalten. Unterstützung für die Fanmi Lavalas, die politische Bewegung unter Führung des heute exilierten Präsidenten Aristide, schien unter den Demonstranten weit verbreitet zu sein. Im März, kurz vor den Food Riots, hatten studentische AktivistInnen dem Landwirtschaftsminister Francois Severin sieben spezielle Empfehlungen zur Revitalisierung des haitianischen Landwirtschaft übergeben, die gegen jene ruinöse, von IWF und Weltbank diktierte Agrarpolitik gerichtet war, die das Land seit 1986 plagt. Die Einkommen auf dem Land und die Ernten fielen seither in den Keller. Die Nahrungsversorgung wurde (insbesondere bei Reis) von Billigimporten und damit von der internationalen Preisfluktuationen abhängig und ließ Haitis Bauern zu Arbeitslosen werden. Von seiner ursprünglichen Aussage, dass er die studentischen Empfehlungen akzeptiere, rückte Severin kurze Zeiter später wieder ab – ein weiterer Affront im Vorfeld der Food Riots.16
Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. In Ägypten, das jährlich 7 Millionen Tonnen Weizen importieren muss, wurde angesichts steigender Brotpreise und bevorstehender Scheinwahlen für den 06. April 2008 ein Generalstreik ausgerufen, für den im Vorfeld eine Reihe unabhängiger Organisationen mobilisiert hatte (die offiziellen Gewerkschaften sind ein Arm der Regierung) – kaum ein Ausdruck für chaotische Gewaltausbrüche des „Mobs“.17 In Gabun war für den 22. April 2008 eine Demonstration gegen die steigenden Lebensmittelpreise angemeldet worden, die dann kurz vorher verboten wurde. Die Mobilisierung dafür erfolgte gemeinsam durch zwei Initiativen, die „Koalition gegen die Teuerung“ und den „Schrei der Frauen“. Die Demonstration fand trotzdem statt und wurde gewaltsam unterdrückt.18 Verschiedene soziale Bewegungen dokumentierten in einer am 29. April 2008 veröffentlichten Preseerklärung („Répression des organisations de la société civile“) die erlittene Repression und riefen zum Protest auf.19 In Honduras hatte für den 17. April 2008 die „Koordination des Volkswiderstands“ (der alle Gewerkschaften und alle Bauernvereinigungen des Landes angehörten) zu einem nationalen Streiktag aufgerufen, um den Forderungen eines 12-Punkte-Plans Nachdruck zu verleihen. Die wichtigsten Punkte dieses Forderungsprogramms betrafen die Verteuerung der Grundnahrungsmittel, die Wasserprivatisierung und die Durchführung einer wirklichen Landreform. Vergeblich versuchte die damalige Regierung Zelaya (zu jenem Zeitpunkt noch auf neoliberalem Kurs) mit massiver Polizeigewalt die zahlreichen Straßenblockaden, die sich quer durchs Land zogen, zu zerschlagen.20 Am 23. September 2007 demonstrierten in Sefrou, Marokko, mehrere tausend Menschen wegen der gestiegenen Brot-, Kaffee-, Tee-, Zucker- und Milchpreise. Mehrheitlich aus Frauen und Jugendlichen bestehend, versuchte die Menge zum Verwaltungsgebäude der Stadt zu gelangen. Armee und Polizei blockierten die Straßen, woraufhin die Demonstration eskalierte und zur Beschädigung öffentlicher Gebäude führte.21 In Tunesien, einem Land über das in der Weltpresse wenig zu erfahren ist, gab es seit Januar 2008 immer wieder heftige Proteste in der Region Gafsa, dem wirtschaftlich wichtigen Phosphatrevier. Die Proteste richteten sich gegen die auch in Tunesien heftigen Preissteigerungen für Lebensmittel. Der Gewerkschaftsbund UGTT war ein maßgeblicher Organisator dieser Proteste.22
„Chaotische Gewaltausbrüche“ – ein mediales Konstrukt
Was mit dieser Aufzählung verdeutlicht werden soll, ist, dass der tatsächliche Ablauf der Ereignisse in diesen Ländern deutlich von dem durch die Medien vermittelten Bild abweicht. Es besteht also der begründete Verdacht, dass die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, Food Riots seien chaotische Gewaltausbrüche, einem bestimmten politischen Zweck dient, nämlich der Legitimierung des Einsatzes staatlicher, in manchen Fällen internationaler Repression. Dabei beeinflusst diese mediale Konstruktion nicht nur die breite öffentliche Meinung, sondern auch die Ansichten von MeinungsträgerInnen, die es eigentlich besser wissen müssten. So scheint die Leiterin der Abteilung für Ökonomische Sicherheit des Internationalen Roten Kreuz Komitees, Barbara Boyle Saidi, die Akteure verwechselt zu haben, als sie am 27. Mai 2008 in einem Interview „die Behörden und insbesondere die Sicherheitskräfte [dazu drängte], die Bevölkerung vor möglichen Gewaltausbrüchen im Zusammenhang mit hohen Nahrungsmittelpreisen zu schützen“, auch wenn sie zugleich die Sicherheitskräfte aufforderte, vom Einsatz exzessiver Gewalt abzusehen.23 Äußerungen von J. M. Sumpsi Viñas, Assistant Director-General der Welternährungsorganisation (FAO), stellen eine indirekte Diffamierung der sozialen Bewegungen in den Ländern des Südens dar, wenn er schreibt, dass das „Risiko [sozialer und politischer Unruhen] besonders hoch in Ländern [ist], die gerade einen gewalttätigen Konflikt hinter sich haben und in denen die brüchige Sicherheit und der politische oder wirtschaftliche Fortschritt recht einfach entgleisen können.“6 Wie die oben genannten Beispiele zeigen, sind es eben nicht die sogenannten „failed states“, sondern eher Länder mit etablierten sozialen Bewegungen, in denen es zu Protesten gegen die Auswüchse des neoliberalen Wirtschaftssystems kommt. Aus seiner Perspektive fordert Sumpsi folgerichtig das „Einbeziehen von ernährungsbezogenen Unruhen in die Konflikt-Frühwarnsysteme“ und „Überlegungen, wie Behörden und Missionen zur Friedensförderung (sprich: Militäreinsätze, P.C.) besser mit Massenaufständen umgehen können.“ Zu den „Überlegungen zur Friedensförderung“ dürften auch die Kurse für hohe Polizeibeamte aus den Ländern des Südens gehören, die im Center of Excellence for Stability Police Units (COESPU) in Vicenza, Italien, durchgeführt werden.4 Unter den Kursteilnehmer, waren auch Polizisten aus Kamerun, Kenia, Pakistan und Senegal, also Ländern, wo Hungerproteste brutal unterdrückt wurden. Im oben zitierten NATO Brief klagt die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan über „praktische Sicherheitsfragen“ wie Demonstrationen, die nach ihrer Ansicht „auf das mangelnde Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit in Afghanistan zurückzuführen sind, dass die steigenden Lebensmittelpreise Teil eines globalen Phänomens sind.“7 Wollten die Autoren damit sagen, dass „globale Phänomene“ als unabwendbar hinzunehmen sind? Insgesamt ist zu erkennen, dass in den Zentren der Macht mehr Wert auf die „Kontrolle“ der Ernährungskrise und ihrer Folgen gelegt wird, als auf deren Lösung.
Das Streben nach einer tatsächlichen Lösung würde dringende und grundlegende Veränderungen in der globalen Landwirtschaftspolitik bedeuten. Doch diese sind nicht in Sicht. So erinnert das Beharren auf einer perspektivlosen Welternährungspolitik24 in Kombination mit den Food Riots an die alte Formel, dass der Kapitalismus seinen eigenen Totengräber schafft. Die modernen Food Riots spielten sich bislang vor allem in der Peripherie des globalen Kapitalismus ab, wenngleich in deren urbanen Zentren. Dabei enthält die Liste der Länder mit Food Riots der Periode von 1976 bis 1992, die Walton und Seddon10 präsentierten, ein aus heutiger Sicht interessantes Detail. In ihrer Tabelle der 39 Riot-Länder ist nicht nur das Jahr der ersten (und in etlichen Fällen einzigen) Hungerrevolte aufgeführt, sondern auch die Summe dieser Ereignisse in der gesamten Periode. Mit 14 Food Riots nimmt Peru die Spitzenposition ein. In zwölf Ländern gab es jeweils nur eine Brotrevolte. Doch unter den sieben Spitzenplätzen (Länder mit 7 Food Riots und mehr innerhalb der 17jährigen Erfassungperiode) befinden sich Bolivien (13) und Venezuela (7). Außerdem sind mit Brasilien (11) und Argentinien (11) zwei weitere Länder unter den Top-Sieben, die in jüngerer Zeit zumindest ansatzweise eine anti-neoliberale Politik bzw. eine Politik zu mehr sozialem Ausgleich erkennen ließen. Der Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte liefert also Indizien dafür, dass Food Riots Teil eines komplexeren Prozesses der Transformation zu mehr sozialem Ausgleich zu sein scheinen.
Schlussfogerungen
Betrachtet man die globale Sicherheits-(=Repressions-)Politik des Westens, die Geschichte der Food Riots und die Sackgasse, in der sich die globale Landwirtschaft heute befindet, im Zusammenhang, lassen sich folgende Thesen ableiten: (1) Empirische Befunde weisen darauf hin, dass Food Riots Teil komplexer gesellschaftlicher Prozesse zur gesellschaftlichen Veränderung bis hin zu Ansätzen eines Systemwandels darstellen. (2) Trotz einer sich konsolidierenden landwirtschaftlichen Alternative,25 ist in näherer Zukunft keine globale Trendwende zu einer sozial und ökologisch verträglichen Landwirtschaft zu erwarten. Food Riots finden in urbanen Zentren statt. Mit der zu befürchtenden weiteren Ausbreitung eines Modells der industriellen Landwirtschaft in den Ländern des Südens setzt sich die Urbanisierung der Weltbevölkerung fort, d. h. das Riot-Potenzial in den Ballungsräumen des Südens verstärkt sich, insbesondere wenn die gravierenden Verteilungsungerechtigkeiten beibehalten oder gar verstärkt werden. Parallel dazu lässt sich eine Zunahme von Unruhen in einigen Ländern West- und Osteuropas prognostizieren, die „eine tiefe Verzweiflung über die ökonomischen Perspektiven, die selbst für junge Leute mit guter Ausbildung“ und „eine scharfe Kritik am starren Klassensystem und an der Korruption der politischen Klasse“ reflektieren.26 (3) Die herrschenden Eliten werden auch künftig darauf setzen, Unruhen mit „Sicherheitspolitik“ unter Kontrolle zu bringen, wobei sich die globale Sicherheitspolitik, ähnlich wie die Landwirtschafts- und Klimapolitik, in einer Sackgasse befindet.
Die Ereignisse der Jahre 2007/2008 bestätigen und relativieren die Analyse von Walton und Seddon.10 Einerseits bestätigen sie deren Erkenntnis, dass in der Regel zwar eine enge allgemeine Beziehung zwischen Food Riots und Preiserhöhungen bzw. Versorgungsengpässen für Lebensmittel besteht. Eine unmittelbare zeitliche Verknüpfung zu Hunger als sozialem Phänomen (Hungersnot) besteht jedoch meistens nicht. In der Vergangenheit war der fehlende Zugang zu Lebensmitteln meist nur einer von mehreren Gründen für den Ausbruch von Food Riots. Diese Proteste begleiten den Neoliberalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ähnlich wie sie den Wirtschaftsliberalismus des 18./19. Jahrhunderts begleiteten. Doch während Food Riots vor 200 Jahren eine frühe Form des collective bargaining waren, mit dem kurz gesteckte Ziele gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zur Verhandlung gebracht wurden, gibt es Indizien dafür, dass die heutigen Proteste in den afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern Teil eines komplexen gesellschaftlichen Transformationsprozesses sind. Häufig werden sie von Basisinitiativen, Gewerkschaften und anderen oppositionellen Gruppen vorbereitet und organisiert. Diese Analyse scheint von den Zentren der Macht geteilt zu werden, denn die stereotyp wiederholte Behauptung, Food Riots seien chaotische Gewaltausbrüche (womit der Einsatz staatlicher bzw. internationaler Repression legitimiert wird), lässt darauf schließen, dass man die drohende gesellschaftliche Transformation ernst nimmt. Da „Armutsbekämpfung das heiligste Ziel der internationalen Rhetorik“ ist und der Reflex des herrschenden Systems in technological fixes besteht, um der „Knappheitsschere“ zu begegnen,27 statt tragfähige gesellschaftliche Lösungen durchzusetzen, scheint das Riot-Potenzial für die Zukunft gesichert zu sein.
1 De Schutter, O. (2010) : Herausforderungen des Agrarhandels im Spannungsfeld der Ernährungs-, Klima- und Wirtschaftskrise. Keynote. Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.
2 “Biosprit-Anbau lässt Reispreise steigen“, 04.04.2008.
3 Rudloff, B.(2009): Aufstand der Ausgehungerten. Internationale Politik Nr. 11/12, S. 38-44.
4 Marischka, C. (2008): Haiti und der Krieg gegen die Armut, Ausdruck, Juni 2008.
5 NATO Brief 5/2008.
6 Sumpsi Viñas, J. M. (2008): Ein hungriger Mann ist ein zorniger Mann, NATO Brief 5/2008.
7 “Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?“, Interview mit Vertretern der UNAMA, NATO Brief 5/2008.
8 “Ernährung und Sicherheit – Fragen und Antworten“, NATO Brief 5/2008.
9 Informationsstelle Militarisierung (2009): Frontex – Widersprüche im erweiterten Grenzraum.
10 Walton, J., Seddon, D. (1994): Free markets and food riots. The politics of global adjustment. Oxford UK & Cambridge USA.
11 Thompson, E.P. (1971): The moral economy of the English crowd in the eighteenth century. Past and Present 50, S. 76-136.
12 Pedersen, K. (2008): Die weltweiten Hungerrevolten (Food Riots) 2007/2008. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 76, Dez. 2008, S. 42-50.
13 Peltzer, R. (2008): Neue Brotaufstände? Die Proteste in Kamerun. Im Schatten steigender Lebensmittel- und Ölpreise, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, 4.3.2008.
14 Wiedemann, C. (2008): Dunkle Krawalle. Freitag Nr. 27, 04.07.2008.
15 „Burkina Faso“, 24.10.2008.
16 Sprague, J. (2008): Hunger-Proteste auf Haiti.
17 „Brotpreis, Streiks und Staatsgewalt: Ein Regime zittert – und schlägt um sich…“, 11.04.2008.
18 „Gabun“, 24.10.2008.
19 “Communique de Presse des Organisations de la Societe Civil Gabonaise“, 29.04.2008.
20 „Privatisierung und Widerstand“, 21.11.2008.
21 Schmid, B. (2007): Marokko nach den jüngsten „Brotrevolten“, 02.10.2007.
22 „Gafsa: Ben Alis Polizei kann Proteste nicht stoppen – seine Partei auch nicht“, Interview mit Adnan Birbaoun, 18.04.2008.
23 Boyle Saidi, B. (2008): Food crisis: the rising human cost.
24 Hoering, U. (2009): Weltgipfel Ernährungssicherheit: Hauen und Stechen.
25 Martínez-Torres, M.E., Rossett, P.M. (2010): La Vía Campesina: the birth and evolution of a transnational social movement. J. Peasant Studies 37, S. 149-175.
26 Klare, M.T. (2009): Von Haiti bis Wladiwostok. Eine Weltkarte der Krise. Le Monde Diplomatique, Ausgabe v. 8.5.2009
27 Sachs, W. (2010) : Von Doha nach Rom, Genf und Kopenhagen – wie geht es weiter mit dem internationalen Agrarhandel? Einführung. Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.