Hun­ger – Kata­stro­phe, Pro­test und Medi­en­er­eig­nis

Wo lie­gen die Grün­de für die skan­da­lö­se Dis­kre­panz zwi­schen Pro­duk­ti­on und Ver­sor­gung?

Von Peter Claus­ing

Hun­ger ist die All­tags­rea­li­tät für ein Sechs­tel der Mensch­heit und – hun­ger­be­ding­te Krank­hei­ten mit­be­rück­sich­tigt – die Todes­ur­sa­che für 10 Mil­lio­nen Men­schen jähr­lich. Spä­tes­tens seit der Explo­si­on der Nah­rungs­mit­tel­prei­se 2007/2008 ist klar, dass das Mil­le­ni­ums-Ent­wick­lungs­ziel, den Anteil der Men­schen, die Hun­ger lei­den, von 1990 bis 2015 zu hal­bie­ren, nicht annä­hernd erreicht wer­den wird. Statt zu einer Redu­zie­rung kam es 2008 zu einem Anstieg der Zahl der Hun­gern­den. Dabei wird Jahr für Jahr genü­gend pro­du­ziert, um – sta­tis­tisch betrach­tet – alle Men­schen mit aus­rei­chend Nah­rung zu ver­sor­gen.

Markt­frau­en in Zom­ba, Mala­wi

Preis­explo­sio­nen, Pro­tes­te und ver­eng­te Sicht­wei­sen
Als sich 2007/2008 inner­halb weni­ger Mona­te die Welt­markt­prei­se für Wei­zen und Mais ver­dop­pel­ten und für Reis ver­drei­fach­ten, gab es Hun­ger­re­vol­ten in mehr als 40 Län­dern. J. Walt­on und D. Sed­don doku­men­tier­ten 1994 in einem Buch, dass sol­che Food Riots zumeist nicht in unmit­tel­ba­rem zeit­li­chen Zusam­men­hang mit phy­si­schen Hun­gers­nö­ten ste­hen. Viel­mehr sind sie ein seit über 400 Jah­ren prak­ti­zier­tes Mit­tel, um bestimm­te gesell­schaft­li­che Rah­men­be­din­gun­gen zur Ver­hand­lung zu brin­gen. Bei die­ser als „Kra­wall“ stig­ma­ti­sier­ten Form des sozia­len Pro­tests fin­den Demons­tra­tio­nen, Kund­ge­bun­gen und Streiks statt. Es wer­den For­de­run­gen nach Lebens­mit­teln zu erschwing­li­chen Prei­sen arti­ku­liert. Und gele­gent­lich wird die­sen For­de­run­gen durch die Erstür­mung von Super­märk­ten bzw. Vor­rats­la­gern Nach­druck ver­lie­hen – so auch 2007/2008. Die Grün­de für die Preis­explo­si­on vor reich­lich drei Jah­ren haben noch heu­te Gül­tig­keit: Kon­kur­renz durch Agro­treib­stof­fe, Spe­ku­la­ti­on an den Getrei­de­bör­sen und – in gerin­ge­rem Maß – Ände­run­gen in den Ernäh­rungs­ge­wohn­hei­ten (dazu Mer­kel in treu­her­zi­ger Arro­ganz im April 2008: Der Preis­an­stieg sei nicht ver­wun­der­lich, wenn neu­er­dings 300 Mil­lio­nen Inder eine zwei­te Mahl­zeit ein­näh­men). In die­sem Jahr lag der Lebens­mit­tel­preis­in­dex der Welt­ernäh­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on (FAO) per­ma­nent über den Spit­zen­wer­ten von 2007/2008, doch Food Riots blie­ben anschei­nend aus. Nicht ganz, denn das, was 2011 medi­al als „ara­bi­scher Früh­ling“ ver­mark­tet wur­de, hat­te sei­nen Aus­gangs­punkt aber­mals in Pro­tes­ten gegen erhöh­te Lebens­mit­tel. Im Janu­ar, zu Beginn der Pro­tes­te in Tune­si­en, mach­ten sich Kom­men­ta­to­ren groß­bür­ger­li­cher Zei­tun­gen noch Sor­gen, ob es zu einer „zwei­ten glo­ba­len Wel­le von Hun­ger­re­vol­ten“ (Washing­ton Post, 14.1.2011) kom­men könn­te. Teils mutier­ten die­se Pro­tes­te in einen „ara­bi­schen Früh­ling“, teils wur­de ihnen – in Erin­ne­rung 2008 – dadurch vor­ge­beugt, dass stra­te­gi­sche Reser­ven zur Preis­sta­bi­li­sie­rung auf den Bin­nen­markt gewor­fen wur­den – so in Äthio­pi­en.
Von (bri­ti­schen) Poli­ti­kern wur­de 2008 eine kurz­le­bi­ge Debat­te über Essens­ver­schwen­dung in den Metro­po­len los­ge­tre­ten, die mit dem kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Buch Die Essens­ver­nich­ter bzw. dem Film Tas­te the Was­te eine Renais­sance fand. Die­se Dis­kus­si­on hat durch­aus ihre Berech­ti­gung. In den Medi­en wird sie jedoch durch State­ments wie „Die Hälf­te des­sen, was an Lebens­mit­teln pro­du­ziert wird, wird unge­nutzt weg­ge­wor­fen“ euro­zen­trisch ver­engt, denn weni­ger als die Hälf­te der Welt­be­völ­ke­rung kauft ihre Lebens­mit­tel in Super­märk­ten. Und Hun­ger­ka­ta­stro­phen, wie die gegen­wär­ti­ge am Horn von Afri­ka, las­sen sich nicht unmit­tel­bar durch die Ver­mei­dung von Lebens­mit­tel­ver­nich­tung in den Metro­po­len des Nor­dens ver­hin­dern. Doch die ange­pran­ger­te Ver­schwen­dung legt gra­vie­ren­de „Sys­tem­feh­ler“ offen.

Sack­gas­sen und Aus­we­ge
Seit Jah­ren ist bekannt, dass Hun­ger vor allem dort herrscht, wo Nah­rungs­mit­tel pro­du­ziert wer­den – näm­lich auf dem Land, genau­er gesagt auf dem Land in den Län­dern des Südens. Die Erkennt­nis, dass in die­sen Regio­nen nicht genü­gend Nah­rungs­mit­tel pro­du­ziert wer­den, könn­te zu dem Fehl­schluss füh­ren, dass man das Pro­blem damit lösen könn­te, die „Hälf­te des­sen, was an Lebens­mit­teln pro­du­ziert wird“ (s.o.), statt sie zu ver­nich­ten, dort­hin zu schaf­fen, wo die Nah­rung fehlt. Das wäre kei­ne Lösung des Pro­blems. Von der hin­läng­lich kri­ti­sier­ten Zer­stö­rung loka­ler Öko­no­mien durch das Dum­ping von Lebens­mit­teln aus der EU und den USA abge­se­hen, wäre eine Ver­tei­lung von Nah­rung über so rie­si­ge Flä­chen (bei zugleich feh­len­der ver­kehrs­tech­ni­scher Erschlie­ßung) ein logis­ti­sches Unding und dar­über hin­aus öko­lo­gisch nicht wün­schens­wert. Ein wei­te­rer Fehl­schluss wäre die Eta­blie­rung land­wirt­schaft­li­cher Groß­flä­chen­pro­duk­ti­on in „unter­ent­wi­ckel­ten“ Regio­nen – ein häu­fig benutz­tes Argu­ment, um die unter dem Begriff Land Grab­bing bekannt gewor­de­nen groß­flä­chi­gen Land­trans­ak­tio­nen zu recht­fer­ti­gen, die seit über drei Jah­ren in Afri­ka, Asi­en und Latein­ame­ri­ka gras­sie­ren.
Wel­che nach­hal­ti­ge Bewäl­ti­gung der Welt­ernäh­rungs­kri­se ist von Pro­duk­ti­ons­sys­te­men zu erwar­ten, die 15 Kilo­ka­lo­rien an fos­si­ler Ener­gie ver­brau­chen, um eine Kilo­ka­lo­rie Nah­rungs­mit­tel zu pro­du­zie­ren? Damit wird zugleich der wich­tigs­te Kri­tik­punkt an der oben erwähn­ten Nah­rungs­mit­tel­ver­schwen­dung berührt. Die pro­fit­ge­trie­be­ne Ver­nich­tung von rund der Hälf­te der für Super­märk­te bestimm­ten Lebens­mit­tel, bedeu­tet zugleich eine gran­dio­se Ener­gie­ver­schwen­dung und somit einen bedeut­sa­men Bei­trag zum Kli­ma­wan­del. Die­ser wie­der­um wirkt sich beson­ders gra­vie­rend auf die Ernäh­rungs­si­tua­ti­on in den Hun­ger­re­gio­nen der Welt aus. So wird die Dür­re­ka­ta­stro­phe am Horn von Afri­ka, der Aus­lö­ser der der­zei­ti­gen aku­ten Hun­ger­kri­se, auch immer wie­der als Fol­ge des Kli­ma­wan­dels beschrie­ben.
Wel­che mög­li­chen Aus­we­ge zeich­nen sich ab? Die ein­fa­che, aber in der heu­ti­gen Zeit schwer umzu­set­zen­de Ant­wort wären lokal ange­pass­te, wis­sens­ba­sier­te agro­öko­lo­gi­sche Sys­te­me. Doch der­ar­ti­ge Pro­duk­ti­ons­ver­fah­ren schaf­fen Unab­hän­gig­keit vom glo­ba­len Agro­busi­ness und fin­den des­halb kaum Unter­stüt­zung durch die mäch­ti­gen Insti­tu­tio­nen der Welt. Dabei wäre eine „zen­tra­le“ För­de­rung diver­si­fi­zier­ten Her­an­ge­hens an die Lösung des Welt­ernäh­rungs­pro­blems drin­gend not­wen­dig. Oli­vi­er de Schutter, Son­der­be­richt­erstat­ter der Ver­ein­ten Natio­nen für das Recht auf Nah­rung, fass­te die Ergeb­nis­se einer zur Jah­res­wen­de ver­öf­fent­lich­ten Stu­die mit den Wor­ten zusam­men: „Öko-Anbau kann die Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­ti­on inner­halb von zehn Jah­ren ver­dop­peln.“ Damit mein­te er nicht den zer­ti­fi­zier­ten Bio­an­bau für eine wohl­ha­ben­de Mit­tel­schicht des Nor­dens, son­dern eine res­sour­cen­scho­nen­de Ertrags­stei­ge­rung mit anschlie­ßen­der loka­ler Ver­mark­tung in den Län­dern des Südens, basie­rend auf aus­ge­klü­gel­ten öko­lo­gi­schen Metho­den der Frucht­fol­ge, Schäd­lings­be­kämp­fung, Boden­ver­bes­se­rung und orga­ni­schen Dün­gung. Die Trag­fä­hig­keit die­ses Kon­zepts wur­de inzwi­schen mit Hun­der­ten von Feld­ver­su­chen in Afri­ka, Asi­en und Latein­ame­ri­ka demons­triert. Sol­che Anbau­sys­te­me sind wider­stands­fä­hi­ger gegen Ein­flüs­se des Kli­ma­wan­dels und in der Lage, mit einer Kilo­ka­lo­rie fos­si­ler Ener­gie 10-15 Kilo­ka­lo­rien Nah­rung auf die loka­len Märk­te zu brin­gen. Selbst die FAO schätzt ein, dass jeder Dol­lar, der sinn­voll in die Land­wirt­schaft inves­tiert wer­de, zehn Dol­lar an huma­ni­tä­rer Hil­fe erset­zen könn­te. Erfor­der­lich ist also die Ver­viel­fa­chung die­ser Erfah­run­gen auf Gras­wur­zel­ba­sis – ein Pro­zess, der in natio­na­lem Maß­stab bis­lang ledig­lich in Kuba Fuß gefasst hat.

Zah­len, bit­te!
· Knapp zwei Drit­tel aller Was­ser­re­ser­ven wer­den glo­bal von der Land­wirt­schaft ver­braucht, die Indus­trie ver­braucht ca. 20 Pro­zent.
· 884 Mil­lio­nen Men­schen welt­weit ver­fü­gen nicht über aus­rei­chend sau­be­res Trink­was­ser.
· 2,6 Mil­li­ar­den Men­schen haben kei­nen Zugang zu aus­rei­chen­den sani­tä­ren Anla­gen.
· Zur Pro­duk­ti­on von 1 kg Fleisch wer­den 10 kg Getrei­de benö­tigt. Für die Pro­duk­ti­on von 1 kg Getrei­de wer­den 1.500 Liter Was­ser benö­tigt.
· Der Nest­lé-Kon­zern ver­treibt 77 Was­ser­mar­ken (u.a. Vit­tel, Con­trex, Per­ri­er und S. Pel­le­gri­no), hält damit 17 Pro­zent des glo­ba­len Was­ser­markts und setzt damit ca. 6,2 Mil­li­ar­den Euro um.

(Quel­len: welthungerhilfe.de, wasserstiftung.de, wasser-und-mehr.de, zeit.de, ag-friedensforschung.de; Zusam­men­stel­lung: bew, Direk­te Akti­on)

Der Bei­trag erschien in Direk­te Akti­on Nr.208 (Nov./Dez. 2011)

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