Kubas grü­nes Pro­jekt

Erschie­nen in „jun­ge Welt“ vom 05.05.2010
Peter Claus­ing

Refor­mier­te Land­wirt­schaft: Aus­wei­tung der Nutz­flä­che, Fokus­sie­rung auf Fami­li­en­be­trie­be, öko­lo­gi­scher Anbau und urba­ne Gemü­se­pro­duk­ti­on

Am 16. März 2010 ver­stör­te eine Mel­dung mit der Über­schrift „Kuba schließt 100 Agrar­un­ter­neh­men“ [1] die Leser. Wäh­rend sich jW auf die­se Mel­dung beschränk­te, beeil­ten sich ande­re Medi­en hin­zu­zu­fü­gen, dass Kuba 60 bis 70 Pro­zent sei­ner Nah­rungs­mit­tel impor­tie­ren müs­se. Prä­si­dent Raúl Cas­tro suche nach „Rezep­ten“, um die land­wirt­schaft­li­che Pro­duk­ti­on zu stei­gern. Der­ar­ti­ge Mel­dun­gen ent­kop­peln die Fak­ten vom Kon­text, zeich­nen ein ein­sei­ti­ges Bild und igno­rie­ren die Tat­sa­che, dass die gesuch­ten „Rezep­te“ längst prak­ti­ziert wer­den. Die Mit­tei­lung, dass 100 Betrie­be geschlos­sen wer­den sol­len und 40.000 Beschäf­tig­te einen neu­en Job fin­den müs­sen, kam vom kuba­ni­schen Land­wirt­schafts­mi­nis­ter Uli­ses Rosa­les del Toro, der Mit­te März in Vil­la Cla­ra an der Ple­nar­sit­zung des 10. Pro­vinz-Kon­gres­ses des Natio­na­len Klein­bau­ern­ver­ban­des teil­nahm.

Wäh­rend von pro­gres­si­ven Agrar­wis­sen­schaft­lern die kuba­ni­sche Land­wirt­schaft als erfolg­rei­ches Expe­ri­ment geprie­sen wird, ver­öf­fent­lich­te Den­nis Avery im April 2009 einen Arti­kel mit dem Titel „Cub­ans Star­ve on a Diet of Lies“ [2] (Die Kuba­ner ver­hun­gern an einer Nah­rung aus Lügen), der von poli­ti­schen Geg­nern des Lan­des begie­rig auf­ge­grif­fen und im Inter­net ver­brei­tet wur­de. Avery ist Direk­tor des Cen­ter for Glo­bal Food Issues am Hud­son Insti­tu­te in Washing­ton, einer kon­ser­va­ti­ve Denk­fa­brik, die unter ande­rem von Fir­men wie Mons­an­to, Syn­gen­ta und Car­gill finan­ziert wird. In sei­ner Ver­öf­fent­li­chung behaup­tet Avery, dass die kuba­ni­sche Lebens­mit­tel­ver­sor­gung nach wie vor zu über 80 Pro­zent von Impor­ten abhän­gen wür­de und dass die Erfolgs­ge­schich­te des bio­lo­gi­schen Anbaus in Kuba eine „gro­ße kom­mu­nis­ti­sche Lüge“ sei.

Deut­li­che Stei­ge­rungs­ra­ten

Die Sta­tis­tik der Welt­ernäh­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on (FAO), die aktu­ell bis zum Jahr 2005 reicht, spricht eine ande­re Spra­che. Bei den wich­tigs­ten Grund­nah­rungs­mit­teln lag die Eigen­pro­duk­ti­on in den Jah­ren 2002 bis 2005 um das Zwei- bis Drei­fa­che höher als im Durch­schnitt der Jah­re 1991 bis 1994 – der Son­der­pe­ri­ode nach dem Zusam­men­bruch des sozia­lis­ti­schen Wirt­schafts­raums. Die­se Stei­ge­rungs­ra­ten betref­fen sowohl die wich­tigs­ten Getrei­de­ar­ten (Reis, Mais) als auch stär­ke­hal­ti­ge Wur­zel­früch­te (Kar­tof­fel, Süß­kar­tof­fel, Mani­ok). Daten zu ein­zel­nen Frucht­ar­ten für 2006 und 2007 las­sen ein wei­te­res Wachs­tum der Selbst­ver­sor­gung erken­nen und die Ern­te­vor­her­sa­gen der FAO für 2009 spra­chen von einer Rekord­ern­te für Reis sowie über­durch­schnitt­li­chen Erträ­gen bei Mais.

Eine Grup­pe von Autoren, die sich unter Feder­füh­rung des kuba­ni­schen Agrar­öko­lo­gen Fer­nan­do Funes die Mühe gemacht haben, die von Avery in die Welt gesetz­ten Fehl­in­for­ma­tio­nen zu zer­pflü­cken, ver­wei­sen dar­auf, dass von 1996 bis 2005 die Pro-Kopf-Pro­duk­ti­on bei Nah­rungs­mit­teln ins­ge­samt um jähr­lich 4,2 Pro­zent gestei­gert wur­de. Die täg­li­che Kalo­rien­ver­sor­gung war in den kri­tischs­ten Jah­ren der Son­der­pe­ri­ode auf 2.300 bis 2.400 Kilo­ka­lo­rien (kcal) pro Per­son abge­sun­ken, und die Kuba­ner hat­ten im sta­tis­ti­schen Mit­tel neun Kilo­gramm an Kör­per­ge­wicht ver­lo­ren. Seit 2002 wer­den die Wer­te der 80er Jah­re über­trof­fen und lie­gen seit­her auf über 3.200 kcal pro Per­son und Tag. Die Kalo­rien aus tie­ri­schen Pro­duk­ten blie­ben dabei im Bereich von 300 bis 400 kcal – in den 80er Jah­re lagen sie bei über 600 kcal. Statt des­sen kommt der Gesund­heit der Bevöl­ke­rung zugu­te, dass heu­te der Durch­schnitts­ku­ba­ner täg­lich 800 Gramm Obst und Gemü­se ver­zehrt (ver­gli­chen mit sie­ben Gramm pro Per­son und Tag im Jahr 1993).

Nach­dem durch das Ver­schwin­den des sozia­lis­ti­schen Lagers fak­tisch über Nacht sowohl die Export­ein­nah­men als auch die Ver­sor­gung des Lan­des mit Erd­öl, che­mi­schen Dün­ge­mit­teln und Pes­ti­zi­den weg­ge­bro­chen waren, durch­lief Kuba – zunächst unfrei­wil­lig – eine „grü­ne Revo­lu­ti­on“, die die­sen Namen tat­säch­lich ver­dient. Im Gegen­satz zur all­ge­mein bekann­ten „Grü­nen Revo­lu­ti­on“, die eigent­lich eine agro­che­mi­sche und Export­re­vo­lu­ti­on dar­stell­te, setzt die kuba­ni­sche Umwäl­zung auf Bio­land­bau und loka­le Pro­duk­ti­on. Der Erfolg die­ser Ent­wick­lung, die – wie bei Revo­lu­tio­nen üblich – nicht ohne Wider­sprü­che ver­läuft, ist der För­de­rung der klein­bäu­er­li­chen Land­wirt­schaft, dem hohen Bil­dungs­ni­veau in Kuba (ver­bun­den mit flä­chen­de­cken­den Kam­pa­gnen) und einem Pro­gramm zur urba­nen Land­wirt­schaft zu ver­dan­ken.

Die Hälf­te der heu­te rund 200.000 bäu­er­li­chen Fami­li­en­be­trie­be betreibt bio­lo­gi­schen Anbau. Ins­ge­samt wer­den von die­sen Betrie­ben auf nur 25 Pro­zent der land­wirt­schaft­li­chen Nutz­flä­che mehr als 65 Pro­zent der natio­na­len Pro­duk­ti­on erzeugt. Mit dem im Juli 2008 ver­ab­schie­de­ten „Gesetz 259“ ermög­lich­te die Regie­rung Fami­li­en, die in die Land­wirt­schaft wech­seln wol­len, die Bewirt­schaf­tung von bis zu 13,42 Hekt­ar Land. Inzwi­schen wur­den rund 100.000 Land­nut­zungs­an­trä­ge ein­ge­reicht. Das Ziel ist die agro­öko­lo­gi­sche Bewirt­schaf­tung von 1,5 Mil­lio­nen Hekt­ar, womit die Insel nach Schät­zun­gen von Agrar­wis­sen­schaft­lern den Sta­tus der vol­len Ernäh­rungs­sou­ve­rä­ni­tät errei­chen könn­te. Außer­dem ver­fügt Kuba über aus­rei­chend Land­re­ser­ven, die urbar gemacht wer­den kön­nen. Laut FAO wur­de von 2008 zu 2009 die land­wirt­schaft­lich genutz­te Flä­che um 30 Pro­zent erhöht, und die Regie­rung beab­sich­tigt, die Reis- und Boh­nen­im­por­te inner­halb der nächs­ten fünf Jah­re zu hal­bie­ren.

Urba­ne Land­wirt­schaft

Eine der bemer­kens­wer­tes­ten Ent­wick­lun­gen sind die 50.000 Hekt­ar urba­ner Land­wirt­schaft, auf denen jähr­lich über 1,5 Mil­lio­nen Ton­nen Obst und Gemü­se erzeugt wer­den. Etwa 380.000 Kuba­ner betei­li­gen sich an die­sem Pro­jekt. Die Spit­zener­trä­ge lie­gen bei 20 Kilo­gramm ess­ba­rer Pro­duk­te pro Qua­drat­me­ter, und Städ­te wie Havan­na und San­ta Cla­ra ver­sor­gen sich bei Gemü­se zu über 70 Pro­zent aus eige­ner Pro­duk­ti­on. Das geschieht nahe­zu ohne Ver­brauch an fos­si­len Ener­gie­trä­gern, die in ande­ren Län­dern für Trans­port, Land­ma­schi­nen, Dün­ge­mit­tel und Pes­ti­zi­de ver­pul­vert wer­den. Im Zuge der Über­win­dung der kri­ti­schen Pha­se der „Son­der­pe­ri­ode“ in den 90er Jah­ren wur­de Kuba zum Mus­ter­land nach­hal­ti­ger land­wirt­schaft­li­cher Pro­duk­ti­on. Inner­halb eines Jahr­zehnts erfolg­te die Kon­ver­si­on eines hoch­spe­zia­li­sier­ten, export­ori­en­tier­ten Land­wirt­schafts­mo­dells, das mas­siv von impor­tier­ten che­mi­schen Inputs abhing, in ein Modell, das in gro­ßem Maß­stab auf agro­öko­lo­gi­schen Prin­zi­pi­en basiert.

Hier wird bio­lo­gi­scher Anbau nicht zer­ti­fi­ziert. Es geht nicht dar­um, über Öko­la­bels Vor­tei­le auf dem Welt­markt zu erha­schen, son­dern um die Siche­rung der Ernäh­rung eines gan­zen Lan­des mit einer diver­si­fi­zier­ten Pro­duk­ti­on, die selbst unter den ungüns­ti­gen kli­ma­ti­schen Bedin­gun­gen von Hur­ri­kans eine bemer­kens­wer­te Elas­ti­zi­tät auf­weist. Ohne dass bis­lang wei­te­re Details bekannt sind, könn­te die oben erwähn­te Ankün­di­gung, 100 inef­fi­zi­en­te Agrar­un­ter­neh­men schlie­ßen zu wol­len, auf eine wei­te­re Stär­kung des Bio­land­baus hin­deu­ten.

Streit um Gen­tech­nik

Die Erfolgs­kur­ve der öko­lo­gi­schen Land­wirt­schaft in Kuba kam weder von selbst noch ver­läuft die land­wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung ohne Wider­sprü­che. Der Agrar­öko­lo­ge Fer­nan­do Funes ver­wies unlängst dar­auf, dass es in Kuba nach wie vor kein in sich geschlos­se­nes Pro­gramm zur För­de­rung des bio­lo­gi­schen Anbaus gibt, mach­te aber zugleich deut­lich, dass die gesell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen der ver­gan­ge­nen zwan­zig Jah­re für die Aus­brei­tung bio­lo­gi­scher Anbau­me­tho­den sehr för­der­lich waren.

Zu den Wider­sprü­chen zählt fer­ner die Tat­sa­che, dass sich ein Teil der land­wirt­schaft­li­chen Pro­du­zen­ten die kon­ven­tio­nel­len Anbau­me­tho­den zurück­wün­schen. Auch die Ent­wick­lung gen­tech­nisch ver­än­der­ter Sor­ten zählt zu den Wider­sprü­chen. Im Febru­ar 2009 trat das Zen­trum für Gen­tech­nik und Bio­tech­no­lo­gie (CIBG) in Havan­na mit der Mel­dung [4] an die Öffent­lich­keit, dass erst­ma­lig in Kuba drei Hekt­ar mit Gen­mais bepflanzt wor­den sei­en – von bes­se­rer Resis­tenz gegen den Erre­ger Palo­mil­la del maíz und erhöh­ter Tole­ranz gegen Pes­ti­zi­de war die Rede. Die Debat­te zu die­sem The­ma ist inzwi­schen ent­brannt: Die Vor­stel­lung des kri­ti­schen Buches „Gen­ma­ni­pu­la­tio­nen. Was gewin­nen wir? Was ver­lie­ren wir?“ [4] von F. R. Funes-Mon­zo­tes erwies sich als Publi­kums­ma­gnet auf der dies­jäh­ri­gen Buch­mes­se in Havan­na.

[1] http://www.jungewelt.de/2010/03-16/053.php
[2]http://cgfi.org/2009/04/cubans-starve-on-diet-of-lies-by-dennis-t-avery/
[3] http://www.soel.de/service/nachrichtenarchiv/2009/maerz.html#6
[4] http://www.buchmesse.de/de/blog/kuba/2010/02/22/in-kuba

Quel­le: http://www.jungewelt.de/2010/05-05/036.php

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