Mit Gewalt gegen Hunger
Erschienen in „junge Welt“ vom 18.05.2010
Peter Clausing
Vor zwei Jahren gab es in zahlreichen Ländern des Südens sogenannte Hungerrevolten (Food Riots). Sie erregten soviel Aufsehen, daß ihnen über einen längeren Zeitraum Platz in den Schlagzeilen der Weltpresse eingeräumt wurde. Wichtige Mainstream-Zeitungen und -Zeitschriften widmeten dem Thema wiederholt Beiträge. Ein gemeinsames Merkmal vieler dieser Berichte war die Hervorhebung des »chaotischen« und »gewalttätigen« Charakters der Proteste, ein Klischee, das bekanntlich nicht auf Food Riots beschränkt ist, sondern auch bei anderen Protesten zur Anwendung kommt.
Diese Verunglimpfung fiel jedoch damals aufgrund der beispiellosen zeitlichen Dichte und der globalen Verbreitung des Phänomens besonders ins Auge. Immerhin kam es innerhalb Jahresfrist (2007/2008) zu Hungerrevolten in mindestens 40 Ländern. Allein in den sechs Wochen von Ende Februar bis Anfang April 2008 wurde über Proteste in acht verschiedenen Ländern Asiens und Afrikas berichtet, die sich zum Teil landesweit ausdehnten. Das ließ bei zahlreichen Sicherheitsexperten die Alarmglocken schrillen und gab den einschlägigen Think-tanks und mächtigen Institutionen Anlaß zu entsprechenden Analysen und Einschätzungen. Sowohl über die vermeintlichen Ursachen als auch über Gegenmaßnahmen wurde laut nachgedacht.
Zu Verbrechern gestempelt
Hungerrevolten sind ein seit über 400 Jahren praktiziertes Mittel, um bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Verhandlung zu bringen. Während sie zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert vor allem für Frankreich und Großbritannien, aber auch für Mitteleuropa beschrieben wurden – ein Teil der Weberaufstände fällt in diese Kategorie –, waren sie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vor allem in den Ländern des globalen Südens präsent. Bei dieser von vornherein als »Krawall« stigmatisierten Form des sozialen Protests finden – ähnlich wie bei anderen Protesten – primär Demonstrationen, Kundgebungen und Streiks statt. Es werden Forderungen nach Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen artikuliert und gelegentlich wird diesen Forderungen durch die Erstürmung von Supermärkten und Vorratslagern Nachdruck verliehen. Der letztere Aspekt, der normalerweise nicht im Vordergrund solcher Protestaktionen steht, sondern eher eine Randerscheinung ist, wird jedoch von der Berichterstattung gern als das dominante Phänomen des Geschehens dargestellt. Eigentlich, so scheint es, kein großer Unterschied zur Berichterstattung über die Proteste gegen G-8-, WTO- oder NATO-Treffen, bei denen vorzugsweise steinewerfende Demonstranten, zertrümmerte Fensterscheiben und brennende oder umgestürzte Autos (nicht selten durch »szenetypisch gekleidete Polizisten« verursacht) abgelichtet und veröffentlicht werden. So dienen auch die über Food Riots medial vermittelten Bilder und die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, es seien chaotische Gewaltausbrüche, einem einzigen politischen Zweck – der Delegitimierung dieser Aktionen und der Legitimierung staatlicher, in manchen Fällen überstaatlicher Repression der sozialen Bewegungen, die diese Proteste organisiert haben.
Eine Besonderheit bei den Berichten über Hungerrevolten aus den Ländern des Südens ist allerdings, daß selbst auf das letzte Feigenblatt »ausgewogener« Reportage verzichtet wird, etwa in Form eines Sekundenclips aus einem Interview mit einem Sprecher von ATTAC oder dem Schnappschuß von einer disziplinierten Kolonne von Trägern mit einfallsreichen Sprüche versehener Transparente. Die Bilder aus den Ländern des Südens beschränken sich auf die Darstellung roher Gewalt. »Plünderung« ist eines der häufig wiederholten Reizworte, das gern mit passenden Bildern untermalt wird. Die »Masse« als sozialer Akteur bleibt gesichtslos. Daß diese Art der Darstellung nicht ohne Wirkung bleibt, läßt sich an den Äußerungen von Vertretern internationaler Hilfsorganisationen und Institutionen ablesen. Obwohl bei Hungerrevolten die regelmäßig zu beklagenden Toten und Verwundeten fast ausschließlich auf das Konto der Sicherheitskräfte gehen, erklärte die Leiterin der Abteilung für Ökonomische Sicherheit des Internationalen Roten Kreuz Komitees, Barbara Boyle Saidi, unter offensichtlicher Verwechslung von Tätern und Opfern am 27. Mai 2008, daß die Behörden und insbesondere die Sicherheitskräfte die Bevölkerung vor möglichen Gewaltausbrüchen im Zusammenhang mit hohen Nahrungsmittelpreisen schützen sollten.
Einer der Direktoren der Welternährungsorganisation (FAO), J. M. Sumpsi Viñas, forderte das Einbeziehen von ernährungsbezogenen Unruhen in die Konfliktfrühwarnsysteme und Überlegungen, wie erreicht werden kann, daß Behörden und »Missionen zur Friedensförderung« (sprich: Militäreinsätze) besser mit Massenaufständen umgehen können. Indirekt werden die sozialen Bewegungen in den Ländern des Südens diffamiert, wenn er schreibt, daß das Risiko sozialer und politischer Unruhen besonders in jenen Ländern hoch sei, die gerade einen gewalttätigen Konflikt hinter sich haben und in denen die brüchige Sicherheit und der politische oder wirtschaftliche Fortschritt recht einfach entgleisen könnten. In Wirklichkeit sind es aber gerade nicht die »failed states«, sondern eher Länder mit etablierten sozialen Bewegungen, in denen es zu solchen Protesten kommt, ganz abgesehen davon, daß eine kritische Betrachtung über die Entstehungsgeschichte von »failed states« nicht zum Repertoire solcher Think-tanks gehört. Die »Rädelsführer« derartiger Unruhen, von denen die mediale Scheinwelt den Eindruck vermittelt, daß sie von anonymen Massen oder marodierenden Banden ausgingen, haben Namen und sind, wenn man sich dafür interessiert, sowohl vor als auch nach solchen Protesten sichtbar. Drei Beispiele seien genannt.
Zentren des Widerstands
Daß es in Ägypten bereits im Jahr 2007 insgesamt 580 Streiks, Demonstrationen und Proteste gab, an denen knapp eine halbe Million Arbeiter beteiligt waren, wurde den Konsumenten der Agenturmeldungen über die »Brotrevolten« vorenthalten. Maßgebliche Initiatoren der 2008er Proteste waren die Textilarbeiter von Mahalla, die am besten organisierten Arbeiter ganz Ägyptens. Rechte, die in Mahalla erkämpft wurden, sind der Maßstab für andere Fabriken in Ägypten.1 Die Textilstadt Mahalla-al-Kubra mit ihren 500000 Einwohnern wird als Epizentrum der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung Ägyptens betrachtet, die seit 2006 von sich reden macht – eine Gewerkschaftsbewegung, die bereits seit der Gründung des »Koordinierungskomitees der Arbeiter für Gewerkschaftsrechte« im Jahr 2001 politisch vorbereitet wurde. Von 49 Angeklagten im Zusammenhang mit den Food Riots vom 6. und 7. April 2008 in Mahalla sprach ein Sondergericht 27 frei, während die übrigen 22 zu Gefängnisstrafen zwischen drei und fünf Jahren verurteilt wurden. Amnesty International, Gewerkschaftsorganisationen, Abgeordnete der bundesdeutschen Linkspartei und andere hatten gegen die Prozeßfarce protestiert.
In der tunesischen Stadt Gafsa, einem Zentrum des Phosphatbergbaus, rumorte es bereits seit Januar 2008. Die unabhängigen Gewerkschaften, die der in Paris ansässige tunesische Aktivist Tarek Ben Hiba als »soziale Bewegung völlig neuen Typs« bezeichnete, waren weder ausschließlich auf betriebliche Kämpfe orientiert, noch auf politische Riots, die innerhalb weniger Tage in sich zusammenfallen können. Diese Bewegung mobilisierte für Anfang April 2008 zu Massenprotesten gegen die mafiösen Einstellungspraktiken der Bergbaufirma Compagnie des Phosphates de Gafsa und gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete über »steinewerfende Demonstranten, die mit der Polizei zusammenstießen« und darüber, daß der seit 1987 herrschende Präsident Ben Ali »wenig Toleranz« gegenüber der Opposition hätte. Über die 38 inhaftierten Aktivisten, von denen 33 im Dezember 2008 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, erfuhr man bei Reuters nichts. Die erneuten Proteste am Tag nach der Urteilsverkündung in diesem Schauprozeß belegten die soziale Verankerung der Verurteilten. Nachdem am 4. November 2009 alle Gefangenen durch ein (wahltaktisches) Präsidentendekret begnadigt und freigelassen wurden, meldeten sich sechs von ihnen am 19. Februar mit einem Kommuniqué zurück, in dem sie die fortgesetzte politische Unterdrückung und prekäre soziale Lage in der Region Gafsa unterstrichen.
Die Mobilisierung zu den Protesten in Senegal, die am 30. März 2008 stattfanden, wurde von zwei großen Verbraucherverbänden getragen, der Association des Consommateurs du Sénégal (ASCOSEN) und der Union Nationale des Consommateurs du Sénégal (UNCS). Die Verbraucherverbände reagierten damit auf die akute Erhöhung der Lebenshaltungskosten. Der Milchpreis hatte sich innerhalb weniger Monate verdoppelt, und der Preis für einen Sack Reis war im gleichen Zeitraum um das Anderthalbfache gestiegen. Für den vorletzten Tag des Monats März hatten die beiden Verbände eine Demonstration und ein Sit-In angemeldet. Beides war nicht genehmigt worden. Daraufhin luden die Verantwortlichen der beiden Verbände, Momar Ndao für ASCOSEN und Jean-Pierre Dieng für UNCS, zu einer »öffentlichen Pressekonferenz« ein und setzten sich an die Spitze eines Marsches, der zum Ort dieser öffentlichen Pressekonferenz führen sollte. Als die beiden dabei verhaftet wurden, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den Sicherheitskräften.
Verschärfung der Ernährungskrise
Die derzeitige globale Krise des Kapitalismus könnte man grob zwei sich gegenseitig beeinflussenden Krisenkomplexen zuordnen: 1. eine Ernährungs- und Umweltkrise und 2. eine ökonomische und Finanzkrise. Bislang waren Food Riots in erster Linie eine Reaktion auf den zweiten Komplex, nämlich eine Antwort auf die Erhöhung der Lebenshaltungskosten. Auch 2007/2008 hätte die verfügbare Menge an Lebensmitteln ausgereicht, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren. Es waren die Lebensmittelpreise, die finanzielle Unerreichbarkeit der Lebensmittel, die zu den »Hungerrevolten« führten. Auch auf diese Serie von Ereignissen trifft die 1994 von John Walton und David Seddon getroffene Einschätzung zu, daß Food Riots typischerweise nicht in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit physischen Hungersnöten stehen.2 Für die 70er bis 90er Jahre identifizierten Walton und Seddon zwei Hauptfaktoren für die Entstehung von Hungerrevolten, die auch heute noch bzw. heute sogar in verstärktem Maße wirken: die rasante Urbanisierung in den Ländern des Südens und die internationale Einmischung in die nationalen Ökonomien (damals insbesondere durch den Internationalen Währungsfonds, IWF). Im globalen Süden ist die Urbanisierung seitdem weiter fortgeschritten und die Explosion der Lebenshaltungskosten in den Jahren 2007/2008 war eindeutig auf internationale Einflüsse zurückzuführen, insbesondere auf den Agrotreibstoff-Hype und auf Spekulationen an den Terminbörsen.
Angesichts der sich abzeichnenden weiteren Verschärfung der Ernährungs- und Umweltkrise könnten Food Riots und andere soziale Unruhen künftig allerdings nicht nur durch Preisspekulationen und agrartreibstoffbedingte Flächenkonkurrenz, sondern auch direkt durch geophysikalische Faktoren hervorgerufen werden. Zu diesen Faktoren zählen Ernteverluste durch die Klimaveränderung, die Erschöpfung der globalen Wasservorräte und Ertragsrückgänge infolge von Bodenmüdigkeit, Bodenerosion und Versteppung.
Daß von den Eliten keine Lösung der krisenbedingten Probleme angestrebt wird, sondern deren machtpolitische Kontrolle, erleben wir tagtäglich. Tatsächliche Lösungsversuche wären mit grundlegenden Änderungen im gesellschaftlichen System verbunden – Partikularinteressen müßten hinter gesamtgesellschaftliche Interessen zurücktreten und nationale Interessen (der sozialen Ruhigstellung in den Kernländern des Kapitalismus dienend) einer internationalen Solidarität den Vorrang geben. In den vergangenen Dekaden wurde ein Teil der gesellschaftlichen Widersprüche in den Zentren des Kapitalismus durch eine – mehr oder weniger – »soziale« Marktwirtschaft kaschiert, die einer Mittelschicht Teile des Wohlstandes auf Pump beschaffte. Ähnlich wie bei Vermarktungspyramiden, wo es den Teilnehmern dieses Konstrukts so lange gut geht, wie die Pyramide nicht zusammenbricht, wurde bei ganzen Gesellschaftsschichten der Industrieländer gefühlter Wohlstand erzeugt. Wenn Vermarktungspyramiden zusammenbrechen, haben die Leute an der Spitze der Pyramide ihre Schäflein längst im trockenen, und die Basis der Pyramide bezahlt die Zeche. Auch der gefühlte Wohlstand funktioniert nur dann, wenn die persönlichen Renditen der Herrschenden nicht angetastet werden.
Eliten sichern Herrschaft
Eine wesentliche Quelle des relativen Wohlstandes im Norden war und ist die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen, vor allem in Gegenden, mit denen die Bewohner der (ehemaligen) sozialen Marktwirtschaft nicht in unmittelbaren Kontakt kommen. Nun scheinen sich zwei Dinge gleichzeitig zu erschöpfen. Jener Teil des suggerierten Wohlstandes, der auf Schulden im eigentlichen Wortsinn basiert, droht an der Schuldenkrise zu zerschellen, die dieses Mal keine Schuldenkrise »irgendwelcher« Länder im Süden ist, sondern eine globale. Zugleich nähert sich der soziale (Konsum- und Wachstums-)Frieden des Nordens aufgrund der Ressourcenerschöpfung seinen physischen Grenzen. Folgerichtig steht die sicherheitspolitische Eindämmung der daraus erwachsenden Probleme im Vordergrund des Krisenmanagements.4
Man darf annehmen, daß der IWF, dessen Strukturanpassungsprogramme in den 70er bis 90er Jahren zahlreiche Hungerrevolten auslösten, wußte, wovon er sprach, als er im Dezember 2008 angesichts der akuten Wirtschaftskrise die westlichen Regierungen aufforderte, die Ergreifung von Maßnahmen zur Bewältigung der globalen Wirtschaftskrise zu beschleunigen oder das Risiko einer verzögerten Erholung zu riskieren und damit »gewaltsame Unruhen auf den Straßen auszulösen«. Gleichermaßen äußerte sich Dennis Blair, der am 29. Januar 2009 den Posten des Direktors der Nationalen Nachrichtendienste unter Präsident Barack Obama übernahm und im Februar 2009 in einer Rede vor dem Geheimdienstkomitee des US-Senats einschätzte, daß »ökonomische Krisen das Risiko regimebedrohender Instabilität erhöhen, wenn sie sich über eine Periode von ein bis zwei Jahren hinziehen«.
Im gleichen Monat gab der höchstrangige US-amerikanische General, Admiral Michael Mullen, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, zu Protokoll, daß die Finanzkrise eine höhere Priorität und ein höheres Risiko für die Sicherheit (der USA) hätten als die derzeitigen Kriege im Irak und in Afghanistan. Er erläuterte, daß die aus der globalen Krise erwachsenden Risiken »unsere nationale Sicherheit auf eine Weise beeinflussen werden, die wir noch nicht richtig überschauen«. Vorsorglich planten Pentagon-Mitarbeiter im Jahr 2008, bis zu 20000 dem US Northern Command (NORTHCOM) unterstehende Soldaten dahingehend auszubilden, daß sie die Polizei bei ihren Aufgaben (bei der Aufrechterhaltung der »öffentlichen Sicherheit«) unterstützen können. Auch in Großbritannien wurden angesichts der Krise entsprechende Vorkehrungen getroffen. In Erwartung eines »heißen Sommers« 2009 wurde die Armee zeitweise in Alarmbereitschaft versetzt. Es zeichnet sich also für die Hochburgen der westlichen Demokratie ein Trend ab, der in vielen Ländern der Peripherie schon lange zum Alltag gehört: der Einsatz der Armee im Inland. An der Peripherie allerdings oft mit einem Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen verbunden, wie sie in den Ländern der zerbröckelnden »sozialen Marktwirtschaft« derzeit noch unvorstellbar sind.
Damit der Einsatz der Sicherheitskräfte noch effektiver wird, hatte man sich auf dem G-8-Treffen im Juni 2004 darauf geeinigt, im italienischen Vicenza ein »Center of Excellence for Stability Police Units« zu etablieren, unter anderem mit dem Ziel, Einsatzkonzepte für die Kontrolle von Personenansammlungen, die Verhaftung gefährlicher Personen und den Schutz von VIPs zu entwickeln. Unter Rückgriff auf die Erfahrungen von UN-Einsätzen an der Elfenbeinküste, in Liberia und Sierra Leone, werden bis Ende 2010 insgesamt 7500 Gendarmeriekräfte in fünf- bis siebenwöchigen Kursen ausgebildet. An der seit März 2005 existierenden Trainingsstätte exerzieren unter anderem Polizisten aus Ägypten, Bangladesh, Burkina Faso, Indien, Indonesien, Kamerun, Marokko, Pakistan und Senegal – alles Länder, in denen es 2007/2008 zu Hungerrevolten kam, die vielfach brutal unterdrückt wurden.
Die unvollständige Bilanz der in Zeitungsmeldungen veröffentlichten Zahlen über die Food Riots von 2007/2008 beläuft sich auf 80 Tote, über 1000 Verletzte und mehr als 2000 Verhaftete. Bei den Ausschreitungen der Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit der Unterdrückung der ägyptischen Textilarbeiterstadt Mahalla am 6. April 2008 gab es sieben Tote, Hunderte Verletzte und mindestens 331 Verhaftete. Im indischen Bundesstaat Westbengalen im Herbst 2007 wurden zwei Teilnehmer an den Demonstrationen getötet und mindestens 300 verletzt, als die Polizei in die Menge feuerte. In Guinea kam es 2007/2008 innerhalb von 18 Monaten zu einem Generalstreik und fünf landesweiten Protesten, bei denen Dutzende getötet wurden. Auf Haiti erschossen UN-Truppen zunächst eine Person und verwundeten weitere fünf. Bei weiteren Protesten wurden fünf Personen getötet und mindestens 25 verletzt. In Kamerun ging Ende Februar 2008 die Armee gegen die landesweiten Proteste vor. Nach offiziellen Angaben kostete dies 40 Menschen das Leben, nach Angaben der kamerunischen Menschenrechtsorganisation Maison des Droits de L’Homme starben nahezu 200 Personen. Offiziell kam es zu 1671 Verhaftungen. In der marokkanischen Stadt Sefrou demonstrierten am 23. September 2007 3000 bis 4000 Menschen gegen die hohen Lebensmittelpreise – die knüppelnde Polizei hinterließ 300 Verletzte, davon 20 Schwerverletzte. Im tunesischen Phosphatrevier Gafsa schoß die Polizei am 5. Juni 2008 in die protestierende Menge, tötete eine Person und verletzte 26 weitere. Aus vielen Ländern wurden keine konkreten Zahlen bekannt, obwohl die Unterdrückung der Proteste nicht glimpflich verlief.
Angesichts der Beibehaltung der gravierenden Verteilungsungerechtigkeiten und der fehlenden Bereitschaft zu einer globale Trendwende in Richtung sozial und ökologisch verträglicher Wirtschaft ist zu erwarten, daß sich das Potential von Hungerrevolten in den Ballungsräumen des Südens verstärken wird. Parallel dazu läßt sich eine Zunahme von Unruhen in den Ländern West- und Osteuropas prognostizieren bzw. aktuell beobachten, die »eine tiefe Verzweiflung über die ökonomischen Perspektiven, die selbst für junge Leute mit guter Ausbildung« und »eine scharfe Kritik am starren Klassensystem und an der Korruption der politischen Klasse« reflektieren. Die herrschenden Eliten werden auch künftig darauf setzen, Unruhen mit »Sicherheitspolitik« unter Kontrolle zu bringen, wobei sich die globale Sicherheitspolitik, ähnlich wie die Landwirtschafts- und Klimapolitik in einer Sackgasse befindet.
1 Mehr dazu ist auf dem Gewerkschaftsblog LabourNet.de zu lesen
2 J. Walton, D. Seddon (1994): Free markets and food riots. The politics of global adjustment, Oxford UK & Cambridge USA
3 http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=18529
4 siehe ebd.
Peter Clausing ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung e. V. und veröffentlichte 2008 unter dem Pseudonym Klaus Pedersen das Buch »Naturschutz und Profit« im Unrast Verlag, Münster
Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/05-18/017.php