Naturschutz als Landraub – Betrachtungen zum Tag der Menschenrechte
Nationalparks bewahren die biologische Vielfalt. Gleichzeitig aber werden die dort lebenden Menschen verdrängt und ihrer Existenzgrundlage beraubt.
Von Peter Clausing
Am 10. Dezember wird alljährlich der Tag der Menschenrechte begangen. 1948 wurde an diesem Datum die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Nicht selten wird an diesem Tag vorrangig über die bürgerlichen und politischen Menschenrechte öffentlich nachgedacht, zu denen das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Versammlungsfreiheit und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zählen. Es ist auch der Todestag Alfred Nobels, der 1894, zwei Jahre vor seinem Ableben, den schwedischen Rüstungsbetrieb Bofors kaufte. Nichtsdestotrotz wird seit 1901 am 10. Dezember der Friedensnobelpreis vergeben.
Neben den bürgerlichen und politischen Menschenrechten sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (WSK-) Rechte ein anderer, ebenso wichtige Teil von Menschenrechten. Für beide Gruppen trat im Jahr 1976 jeweils ein internationaler Pakt in Kraft, in dem die betreffenden Rechte verbindlich beschrieben sind.
Zu den WSK-Rechten zählt das im Artikel 11 beschriebene Recht auf »adäquate Nahrung, Bekleidung und Behausung und die kontinuierliche Verbesserung der Lebensbedingungen«. Um dessen Einhaltung zu überwachen, haben die Vereinten Nationen im Jahr 2000 die Position des »Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung« geschaffen, die seit 2008 Olivier de Schutter innehat. Er und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) thematisieren regelmäßig den Hunger auf der Welt und machen Vorschläge, um ihn künftig zu vermeiden.
Vertreibung in Kauf genommen
Nun stellt sich die Frage, was Nationalparks, bei denen es doch eigentlich um den Schutz der biologischen Vielfalt geht, mit dem Schutz der Spezies Mensch zu tun haben? Die Antwort ist schnell gefunden, denn dort, wo Nationalparks eingerichtet wurden, mussten fast immer Menschen weichen – unter den im globalen Süden herrschenden Verhältnissen in der Regel ohne Vorbereitung und ohne Entschädigung. Das heißt, diese Menschen verloren oftmals über Nacht ihre Existenzgrundlage – die Voraussetzungen für ihre Ernährung und ihre Behausung.
Warum spielt das in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle? Mögliche Antworten wären, dass dies »untypische« Ereignisse sind, die nur selten vorkommen oder Geschehnisse aus der Vergangenheit, die heute, von der historischen Schuld abgesehen, keine Bedeutung mehr haben. Beides trifft nicht zu. Erstens betrifft dies Zigtausende Menschen, und zweitens fanden und finden Vertreibungen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart statt.
Eine Schätzung von Charles Geisler, Professor für ländliche Soziologie an der Cornell-Universität (USA), und seiner Mitautorin Ragendra de Sousa aus dem Jahr 2001 kommt für Afrika auf eine Zahl zwischen 900.000 und 14,4 Millionen vertriebenen Menschen. Der weite Rahmen der Schätzung ergibt sich aus der Spannbreite der möglichen Bevölkerungsdichte. Die AutroInnen gingen von der Annahme aus, dass die Schutzgebiete in Afrika in »dünn besiedelten« Regionen errichtet wurden. Das sind per Definition Gebiete mit ein bis 16 EinwohnerInnen pro Quadratkilometer. Daraus ergab sich bei insgesamt 900.000 Quadratkilometer Schutzgebieten der Kategorien I bis III, dass zwischen 900.000 und 14,4 Millionen afrikanische Menschen vertrieben worden sein müssen. Die von der Weltnaturschutzunion (IUCN) definierten Schutzgebietskategorien I bis III, ja selbst die Kategorie IV, schließen die Anwesenheit von bzw. die Ressourcennutzung durch Menschen weitgehend aus. Von den Flächen »unberührter Natur«, die in den Rang von Naturschutzgebieten dieser Kategorien erhoben werden, muss also die zuvor dort ansässige Bevölkerung fast immer weichen.
Doch die Feststellung, dass bei der Einrichtung von Nationalparks und Wildschutzgebieten zahlreiche Menschen vertrieben werden, basiert nicht nur auf Hochrechnungen. Kai Schmidt-Soltau, ein deutscher Entwicklungssoziologe, der viele Jahre in Kamerun gelebt hat, untersuchte das Schicksal der Menschen bei der Errichtung von zwölf west- und zentralafrikanischen Nationalparks mit einer Gesamtfläche von 41.384 Quadratkilometern. Im Durchschnitt wurden pro Nationalpark 4.500 Menschen vertrieben bzw. zwangsumgesiedelt, in den meisten Fällen ohne Entschädigung. Bei sieben der zwölf Nationalparks trat der World Wide Fund for Nature (WWF) als »Promotor« in Erscheinung. Als solchen bezeichnet Schmidt-Soltau eine Organisation, die die betreffende nationale Regierung dazu aufgerufen und dabei unterstützt hatte, den betreffenden Nationalpark einzurichten. Der britische Anthropologe Dan Brockington und sein Kollege James Igoe wiesen nach, dass, bezogen auf die Gesamtfläche der strengeren Schutzgebiete (IUCN-Kategorie I bis IV), in elf von 21 afrikanischen Ländern und auf mehr als einem Drittel der Schutzgebietsflächen Vertreibungen vorgenommen wurden.
Ferner beschrieben sie Beispiele für die aktive Beteiligung großer Naturschutzorganisationen an der Etablierung von Schutzgebieten und mithin an der Vertreibung der dort lebenden Menschen, wobei zwischen »aktiver« und »direkter« Beteiligung unterschieden werden muss. So war die »Parks in Peril«-Kampagne (Parks in Gefahr) von The Nature Conservancy auf eine mit Vertreibungen verbundene Stärkung von Schutzgebieten ausgerichtet, ohne dass diese Organisation unmittelbar und direkt die Hand im Spiel hatte. Auch die African Wildlife Foundation war »nur« finanziell an der Schaffung des Tarangire-Nationalparks und des Lake-Manyara-Nationalparks in Tansania beteiligt. In beiden Fällen kam es zu Vertreibungen. Das offenherzige Bekenntnis von Paul Fentener van Vlissingen, Mitbegründer der African Parks Foundation, die nach eigener Darstellung »Weltklasse-Naturschutz mit Businesspraktiken verbindet«, veranschaulicht die Art und Weise, wie transnationale Naturschutzorganisationen vorgehen.
In Bezug auf den 1974 gegründeten äthiopischen Nechisar-Nationalpark, der von seiner Organisation gemanagt wird, äußerte van Vlissingen gegenüber einem Journalisten: »Wir wollten nicht an der Umsiedlung beteiligt sein. Deshalb habe ich eine Klausel in den Vertrag eingebaut, dass wir die Verantwortung für den Park erst nach Abschluss der Umsiedlungen übernehmen werden.« In der Regel sind Regierungsbeamte, Polizisten und Soldaten diejenigen, die Umsiedlungen bzw. Vertreibungen veranlassen, durchführen und beaufsichtigen.
Naturschutz-Grabbing versus agrarisches Land Grabbing
Nur selten übertragen Regierungen ihre Hoheitsrechte direkt an die NGOs, wie im Fall der Zentralafrikanischen Republik, wo die Africa River and Rainforest Conservation das Recht erhielt, Wilddiebe zu verhaften und, wenn notwendig, zu töten. Doch selbst wenn Vertreibungen und Umsiedlungen aus Schutzgebieten von den transnationalen Naturschutzorganisationen nicht formal (und öffentlich) unterstützt werden, gibt es einflussreiche Personen innerhalb dieser Gruppierungen, die das explizit fordern, so die Einschätzung von Brockington und Igoe. Hauptsächlich schaffen diese Naturschutzorganisa-tionen also die entsprechenden Rahmenbedingungen (Finanzierung, Beeinflussung von Entscheidungsträgern, Vermittlung einer bestimmten Vision von Naturschutz), was dann zur direkten oder indirekten Vertreibung von Menschen bei der Etablierung von Schutzgebieten führt.
Insgesamt haben wir es mit Enteignungsprozessen zu tun, die dem agrarischen »Land Grabbing« mehr als ebenbürtig sind und dieses bislang sogar in den Schatten stellen. Dabei ist der Endpunkt dieser Entwicklung bei weitem noch nicht erreicht. Auf der 10. Nachfolgekonferenz zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt der UNO, die im Oktober 2010 im japanische Nagoya stattfand, wurde im Rahmen der sogenannten Aichi-Targets vereinbart, den Anteil der Schutzgebiete an der Landfläche der Erde von derzeit zwölf Prozent auf 17 Prozent zu erhöhen. Es geht also um die Etablierung von Schutzgebieten auf einer Fläche von weiteren 7,5 Millionen Quadratkilometern. Außerdem ist ein deutlicher Zuwachs an privaten Schutzgebieten, insbesondere im subsaharischen Afrika, zu verzeichnen. So beanspruchten private Wildschutzgebiete bereits im Jahr 2006 in der Republik Südafrika elf Prozent der Landesfläche – doppelt so viel wie die staatlichen Schutzgebiete – Tendenz steigend.
Da beruhigt es wenig, wenn in dem in diesem Jahr erschienenen Bericht des hochkarätig besetzten Symposiums »Conservation and Land Grabbing« behauptet wird, daß sich die Naturschutzpraxis in den letzten zwei Jahrzehnten zum Besseren gewandelt habe.1 Die Fakten weisen leider darauf hin, daß es sich dabei um eine überwiegend verbale Änderung gehandelt hat, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Eine eigene Internetrecherche förderte mit wenig Aufwand neun Fälle von Vertreibungen aus der Zeit zwischen 2008 und 2013 in Haiti, Indonesien, Kenia, Mexiko, Tansania und Uganda zutage. In der Mehrzahl der Fälle waren jeweils über 1.000 Menschen betroffen. An einigen Orten kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen Menschen starben. Es ist leicht vorstellbar, daß dies nur die Spitze des Eisberges darstellt.
Im Gegensatz zum agrarischen Land Grabbing blieb trotz dieser Ereignisse und des Umfangs des Geschehens ein allgemeiner öffentlicher Aufschrei über das »Naturschutz-Grabbing« bislang aus. Als mögliche Gründe dafür kommen in Frage:
– das positive Image von Naturschutz in der Bevölkerung;
– die Fähigkeit bestimmter Interessengruppen, gerade in diesem Bereich durch die Schaffung virtueller Welten (Tourismus) und durch diskursive Verbrämung (gute Parkranger, böse Wilddiebe, Schaffung von Arbeitsplätzen durch Nationalparks) eine breitenwirksame Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen durch Naturschutz-Grabbing in den Hintergrund zu drängen;
– ein (gemessen an anderen Teilen der ländlichen Bevölkerung, die zum Teil durch Bauernorganisationen vertreten werden) oftmals schlechterer Organisierungsgrad der betroffenen Bevölkerungsgruppen.
Armut als Folge
Von den Befürwortern strenger Schutzgebiete wird gern argumentiert, dass mit deren Einrichtung ein armutslindernder Effekt einhergehen würde. Das wäre ganz im Sinne der im Artikel 11 des Internationalen Pakts zu den WSK-Rechten geforderten »kontinuierlichen Verbesserung der Lebensbedingungen« und ist somit ein guter Grund, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Eine vielzitierte, in dem renommierten Wissenschaftsjournal Science publizierte Arbeit von George Wittemyer und Mitautoren aus dem Jahr 2008 schien diese Behauptung zu untermauern.2 In der Publikation wurde die Entdeckung eines beschleunigten Bevölkerungswachstums in den Pufferzonen von 246 der insgesamt 306 untersuchten Schutzgebiete in 38 afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern beschrieben. Dies sei Folge der Migration in diese vermeintlich attraktiven Zonen und nicht überraschend angesichts der Millionen US-Dollar, die internationale Geldgeber in einen integrierten Naturschutz und in die ländliche Entwicklung in diesen Bereichen investieren würden. Davon würden die in den Pufferzonen lebenden Menschen direkt und indirekt profitieren – durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, den Bau von Straßen, Kliniken, Schulen und sanitären Einrichtungen. Leider wurde von anderen bei der erneuten Auswertung der Daten ein grober Rechenfehler entdeckt.3 Wittemyer und seine Kollegen hatten die sprichwörtlichen Äpfel und Birnen miteinander verglichen, das heißt zwei nicht kompatible demographische Datenbasen. Bei korrekter Berechnung ergaben sich keinerlei Hinweise auf ein übermäßiges Bevölkerungswachstum an den Rändern der besagten Schutzgebiete, womit auch die daraus gezogenen Schlussfolgerungen hinfällig wurden.
Eine Antwort auf die Frage, ob die Einrichtung von Schutzgebieten die Armut lindert oder nicht, muss also auf andere Weise gesucht werden. Eine grobe Orientierung bieten bereits die Erkenntnisse aus einer Selbstanalyse des WWF aus dem Jahr 2004, der zufolge in 206 untersuchten Schutzgebieten im Durchschnitt jeweils 40 Arbeitsplätze geschaffen wurden. Diese Zahl steht im Kontrast zu der oben erwähnten Untersuchung von Kai Schmidt-Soltau, der ermittelte, dass in den zwölf Nationalparks jeweils durchschnittlich 4.500 Menschen vertrieben bzw. zwangsumgesiedelt wurden. Kürzlich erschien ein komplettes Buch zu der Frage, ob es Beweise für die Linderung von Armut durch Schutzgebiete gibt.4 Unter anderem wird dort ein Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten der Armutsbekämpfung im Kontext von Schutzgebieten gegeben. Die auf der Auswertung von über 400 Publikationen fußende Einschätzung folgt dem »Ja, aber«-Prinzip. Und das, obwohl vier der fünf Autoren des betreffenden Beitrags bei The Nature Conservancy tätig und somit unverdächtig sind, ein überzogen kritisches Bild zu zeichnen. Hier ihre Erkenntnisse:
– Die Kommerzialisierung von Nichtholz-Waldprodukten reduziert selten dauerhaft die lokale Armut und ist im besten Fall ein Notbehelf, im schlimmsten Fall aber eine Armutsfalle.
– Gemeindewald-Bewirtschaftung hat zwar zur Armutsreduzierung in ländlichen Gebieten beigetragen, aber selten den Ärmsten der Armen geholfen, unter anderem weil »ein Großteil des Gewinns von den lokalen und nationalen Eliten eingeheimst wird«. Ferner wird eine Studie zitiert, der zufolge 75 Prozent der in diesem Kontext neu gegründeten kleinen und mittleren Holzfirmen in den ersten drei Jahren ihres Bestehens Pleite gehen.
– Für bezahlte Umweltdienstleistungen wird eingeschätzt, dass die mäßig armen Kleinbauern und die wohlhabenderen Landbesitzer generell diejenigen sind, die Vorteile daraus ziehen und dass der Effekt der eigentlichen Armutslinderung unbedeutend ist.
– Ökotourismus hat in vielen Fällen als effektiver Mechanismus zur Armutsbekämpfung gewirkt. Wobei auch hier diejenigen, denen es ohnehin besser geht, am meisten davon profitieren.
– Jene, die einen Job bei der Schutzgebietsverwaltung bekommen, sind in der Regel die mäßig Armen bis Wohlhabenderen. Die Mehrzahl der ohnehin wenigen Arbeitsplätze wird an Menschen von außerhalb vergeben, nicht an die lokale Bevölkerung.
– Agrarforstwirtschaft wird als Mittel der Armutsreduzierung angesehen. Es ist eine der wenigen aufgezählten Möglichkeiten, die nicht mit dem Etikett »insbesondere vorteilhaft für die weniger Armen bzw. Wohlhabenderen« versehen wurde. Aber der Zugang zu Märkten, um die Produkte zu verkaufen, stellt eine wichtige Voraussetzung dar, die häufig nicht gegeben ist.
– Auch den Maßnahmen zum Erhalt der Agrobiodiversität werden Chancen bei der Armutsbekämpfung eingeräumt. Allerdings mit der Einschränkung, dass die Ärmsten der Armen selten Landeigentümer sind und ihnen deshalb dieser Weg verschlossen bleibt.
Offenbar wurde das Versprechen, durch Schutzgebiete die Armut zu lindern, bislang nur in Ansätzen eingelöst. Vor allem aber fehlt bei der oben genannten Betrachtung die Gegenrechnung: Was hat parallel dazu an Armutserzeugung stattgefunden? Der tansanische Wissenschaftler Huruma Sigalla verweist auf das Fehlen »holistischer Alternativen«, sprich ganzheitlicher Ansätze, um die vom Naturschutz hervorgerufenen Verluste zu kompensieren.5 Die Erfahrung der Menschen vor Ort, dass die zu Beginn bei Naturschutzvorhaben gegebenen Versprechen nicht eingehalten werden, seien der Hauptgrund für die »allgemeine Feindschaft lokaler Gemeinschaften gegenüber dem Naturschutz«, ein Befund, der ebenfalls von einem anonym zitierten leitenden Mitarbeiter des WWF-Tansania bestätigt wird. Auch zahlreiche andere Autoren verweisen auf die Wichtigkeit einer positiven Einstellung der lokalen Bevölkerung gegenüber dem Naturschutz in den angrenzenden Gebieten, wenn die Projekte erfolgreich sein sollen.
Werfen wir den Blick auf eine Fallstudie, die verdeutlicht, dass es von der konkreten Ausgestaltung der Rahmenbedingungen abhängt, ob und welche Gruppen der lokalen Bevölkerung durch Schutzgebiete Vor- oder Nachteile haben. Als soziale Institution und politisches Konstrukt zieht ein Nationalpark die einen Menschen an und stößt andere ab, verändert das lokale Preisgefüge, beschränkt den Zugang zu Ressourcen, trennt die Menschen von der Natur, verändert das Recht und die Machtverhältnisse, so die Einschätzung der Forschergruppe um den norwegischen Professor für Umwelt- und Entwicklungsstudien Paul Vedeld.6
Versperrter Ressourcenzugang
Die Gruppe untersuchte die Verhältnisse in fünf Dörfern am Rande des Mikumi-Nationalparks, des viertgrößten Tansanias, und berücksichtigte sowohl Entschädigungszahlungen und zusätzliche Einkommen als auch die erlittenen Verluste. Diese fünf von insgesamt 18 Dörfern im Randbereich des Nationalparks hatten eine durchschnittliche Größe von etwa 1.000 Einwohnern, die subsistenzwirtschaftlich von Mais, Bohnen und Reis leben. Eine direkte Beschäftigung durch den Nationalpark gab es so gut wie nicht. Aus einem speziellen Fonds erhielten die Dörfer Geld für soziale Projekte (an deren Auswahl sie nicht beteiligt waren), woraus sich eine Kompensation von umgerechnet weniger als 0,1 US-Cent pro Person und Tag ergab – bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von zirka 60 Cent pro Tag. Selbst bei diesem unterhalb der absoluten Armutsgrenze liegenden Pro-Kopf-Einkommen stellt die Kompensation also einen zu vernachlässigenden Betrag dar. Diese Einschätzung wird von dem bereits erwähnten WWF-Mitarbeiter bestätigt, der von Sigalla mit den Worten zitiert wird: »Wenn wir davon sprechen, dass zehn Dörfer 2.000 oder 3.000 Dollar bekommen, wieviel bleibt dann pro Einwohner übrig? Letztendlich wird dir klar, dass die Kompensationszahlungen, die sie bekommen, ihnen nicht viel helfen, im Vergleich zu dem, (…) was ihnen durch die Begrenzung des Zugangs an Ressourcen verlorengeht.«
Auf der Verlustseite ermittelten Vedeld und Kollegen Ernteeinbußen durch Wildtiere (Elefanten, Affen, Wildschweine) von durchschnittlich 4,1 Prozent des Haushaltseinkommens. Legt man die 60 Cent pro Person und Tag zugrunde, entspricht das einem Verlust von 2,5 Cent pro Person und Tag, die dem oben genannten Zugewinn von 0,1 Cent gegenüberstehen.
Neben den materiellen Verlusten waren in der Umgebung des Mikumi-Nationalparks in der Vergangenheit auch immer wieder Verluste von Menschenleben durch die Angriffe von Wildtieren zu beklagen. Im Laufe der Jahre starben über 40 Personen, vor allem durch Löwen, aber auch durch Wasserbüffel. In anderen Gegenden sind es in erster Linie Zwischenfälle mit Elefanten. Um die beschriebenen Beispiele an materiellen und menschlichen Verlusten ins Verhältnis zu setzen, sei an dieser Stelle an die mediale Aufregung erinnert, die 2006 herrschte, als der aus Norditalien gekommene Braunbär »Bruno« die bayerischen Lande durchstreifte.
Ein grundlegender Vorwurf von kritischen Anthropologen wie Dan Brockington ist, dass die Naturschutzprojekte selbst – und eventuell sogar die darin eingebetteten Maßnahmen zur Armutslinderung – dazu tendieren, bestehende Ungleichheiten zu reproduzieren und ggf. zu verstärken. Wenn Schlussfolgerungen über die verstärkende oder lindernde Wirkung von Schutzgebieten auf bestehende Armut gezogen werden, sei es trügerisch, die Gemeindeebene zu betrachten und die Situation der Haushalte außer Acht zu lassen, weil es daran hindert, die Differenzierung in Gewinner und Verlierer wahrzunehmen. Eine solche Betrachtungsweise findet ihre Entsprechung auf Länderebene, wenn die »Entwicklung« von Staaten anhand makroökonomischer Zahlen beurteilt wird und daraus Schlussfolgerungen über den Wohlstand der Bevölkerung gezogen werden.
Anmerkungen
1 Tom Blomley u.a.: Conservation and land grabbing: Part of the problem or part of the solution? Workshop Report 2013, online unter: povertyandconservation.info
2 George Wittemyer u.a.: »Accelerated human population growth at protected area edges.« Science, Nr. 321, 2008, Seiten 123–126
3 Lucas N. Joppa u.a.: On population growth near protected areas. Plos One, Vol. 4, Ausgabe 1, 2009, Seiten 1–5
4 Dilys Roe u.a.: Biodiversity conservation and poverty alleviation: exploring the evidence for a link. Wiley & Sons, Ltd, Chichester, Chichester 2013
5 Huruma L. Sigalla: Trade-offs between wildlife conservation and local livelihood: Evidence from Tanzania. African Review, 40, 2013, Seiten 155–178
6 Paul Vedeld u.a.: Protected areas, poverty and conflicts. A livelihood case study of Mikumi National Park, Tanzania. Forest Policy and Economics, 21, 2012, Seiten 20–31
Erschienen in junge Welt vom 9.12.2013