Hunger am Anfang, Mangel am Ende: Der Rote Oktober, die Versorgung und die Landwirtschaft
von Peter Clausing
Nach der Oktoberrevolution sah sich die junge Sowjetrepublik mit zwei Hauptaufgaben konfrontiert: der Sicherung der Ernährung der Bevölkerung und der Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels als Teil eines „sozialistischen Entwicklungsmodells“.
Zu jener Zeit lebten ca. 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Und so, wie die ländlichen Regionen in England bei der Industrialisierung und mithin bei der Entstehung des Kapitalismus Pate standen, so bildete auch in Sowjetrussland der ländliche Bereich die Quelle der ursprünglichen Akkumulation, nunmehr unter sozialistischem Vorzeichen. Ein wichtiger Unterschied war, dass das, was sich im frühkapitalistischen England über einen längeren Zeitraum vollzog, in der „frühsozialistischen“ Sowjetunion innerhalb weniger Jahre über die Bühne ging. Doch der Reihe nach.
Eine Umgestaltung der zum Großteil subsistenzwirtschaftlich betriebenen – der fast ausschließlich für den Eigenbedarf arbeitenden – Landwirtschaft wurde bereits im zaristischen Russland als notwendig erachtet. Die darauf ausgerichtete, im Jahr 1906 von P. A. Stolypin – 1906 bis 1911 russischer Ministerpräsident unter Zar Nikolaus II. – in die Wege geleitete Agrarreform orientierte sich an westlichen Vorbildern, ließ aber den Grundbesitz von Adel und Kirche unangetastet. Die mit dem „Dekret über den Boden“ vom 27. Januar 1918 vollzogene Nationalisierung des Bodens kam dann den Wünschen der Bauernschaft nach einer Bodenumverteilung entgegen. Die Bauern waren zahlenmäßig die größte Gruppe von Nutznießern der Oktoberrevolution. Die Mehrheit von ihnen stand zu jenem Zeitpunkt auf Seiten der Bolschewiki.
In der Sowjetunion wurde der erarbeitete Mehrwert für die Entwicklung gebraucht und verwendet. Während dieser von der Arbeitskraft geschaffene Mehrwert in den Fabriken nicht unmittelbar sichtbar war, hatte er in den bäuerlichen Wirtschaften in Form von Ernteüberschüssen eine höchst konkrete Gestalt. Diese Überschüsse wurden auf Beschluss des Allrussischen Versorgungskongresses auch im Jahr 1920 nicht mit wirtschaftlichen Mitteln, also mit Steuern und Abgaben abgeschöpft, sondern gewaltsam konfisziert – eine Fortsetzung der Methoden des „Kriegskommunismus“, der in der Sowjetunion im Juli 1918 angesichts von ausländischer Intervention und Bürgerkrieg ausgerufen worden war. Damals zogen regelmäßig bewaffneten Formationen der Bolschewiki in die Dörfer und nahmen den Bauern all das Getreide weg, was von ihnen als „Überschuss“ betrachtet wurde. Die Bauern reagierten, indem sie im Folgejahr weniger aussäten und ihr Vieh schlachteten. Es kam zu bewaffneten Bauernunruhen, die auf die Städte übergriffen und die im Februar 1921 ihren Höhepunkt im Kronstädter Arbeiteraufstand fanden. Die 1981 in der DDR erschienene Kleine Enzyklopädie Weltgeschichte beschrieb die Situation euphemistisch damit, dass „viele Bauern ihre Unzufriedenheit mit dem Kriegskommunismus (bekundeten). Besonders stark zeigte sich das im Frühjahr 1921.“
Parallel dazu hatten die Wolgaregion und die Ukraine mit einer extremen Dürre zu kämpfen, woraus sich in den Jahren 1921-1923 eine dramatische Hungerkatastrophe entwickelte, die fünf Millionen Menschen das Leben kostete. Die Entscheidung der Regierung, von den äußerst knappen Devisen Getreide auf dem Weltmarkt zu kaufen und die von den USA angebotene Lebensmittelhilfe zu akzeptieren, kam zu spät, und die kriegsbedingten Zerstörungen des Eisenbahnsystems erschwerten den Transport der Lebensmittel in die Krisenregionen.
Die Antwort auf die entstandene politische und wirtschaftliche Krise war die von Lenin entworfene und am 15. März 1921 per Dekret eingeführte Neue Ökonomische Politik (NÖP). Mit der NÖP wurde eine Naturalsteuer eingeführt. Die Bauern konnten die Produktionsmenge, die über der Abgabepflicht lag, frei verkaufen; private Händler vermittelten den Austausch zwischen Land und Stadt. Die Wirtschaft des Landes erholte sich. Die Getreideproduktion hatte sich bis 1929 im Vergleich zu 1921 verdoppelt.
In dieser Zeit erlebte auch die Agrarwissenschaft eine kurze, bemerkenswerte Blütezeit. A.W. Tschajanow, ein herausragender Agrarökonom, war auf Lenins Vorschlag in die Staatliche Planungskommission berufen worden. Er leitete seit 1922 das Institut für Agrarökonomie und Agrarpolitik, das sich schnell zum weltweit führenden Institut dieser Art entwickelte. Tschajanows grundlegende Erkenntnis, dass die Flächenproduktivität von Kleinbetrieben (bei geringerer Arbeitsproduktivität) höher ist als die von Großbetrieben, wurde vielfach bestätigt. Sie hat bis heute Gültigkeit. Seine Arbeiten erfuhren eine Renaissance als progressive Agrarökonomen in der postkolonialen Zeit nach Modellen suchten, die für die ländliche Entwicklung in den Ländern des globalen Südens geeignet waren. Im Jahr 1928, die Stalinzeit hatte begonnen, wurde er als Leiter des Instituts abgesetzt, 1930 verhaftet und 1937 hingerichtet. Er war einer der führenden Köpfe der (akademischen) Produktions-Organisations-Schule, deren Mitglieder 1930 beschuldigt wurden, die als konterrevolutionär eingestufte Werktätige Bauernpartei gegründet zu haben.
Das Schicksal der Landwirtschaft war eng mit den Vorstellungen der Parteiführung hinsichtlich der Gestaltung der gesamten Gesellschaft verbunden. Entsprechende Flügelkämpfe innerhalb der Parteiführung blieben nicht aus. Während sich Bucharin (und mit ihm Stalin) in den 1920er Jahren für eine verlangsamte Wirtschaftsentwicklung einsetzte, was den Interessen der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit entgegen kam, setzte der linke Parteiflügel, allen voran Trotzki und Preobrashenskij, auf ein beschleunigtes industrielles Wirtschaftswachstum auf Basis einer „sozialistischen“ Akkumulation. Diese wurde laut marx-forum.de von Preobraschenskij folgendermaßen definiert: „Ursprüngliche sozialistische Akkumulation […] ist die Akkumulation materieller Hilfsquellen in den Händen des Staates, aus Quellen, die teilweise oder hauptsächlich außerhalb der Staatswirtschaft liegen. Diese Akkumulation muss in einem rückständigen bäuerlichen Land eine außerordentlich große Rolle spielen …“.
Im Beitrag zur Geschichte der Sowjetunion wird in demselben Internet-Forum die Sichtweise von Trotzki und Preobraschenskij dahin gehend zusammengefasst, dass sie die Industrialisierung nicht allmählich erreichen wollten, sondern dass diese durch eine indirekte Wertübertragung aus der Arbeit der Bauern und durch deren Enteignung beschleunigt werden sollte. Trotzkis Plädoyer für mehr Demokratie und sein wirtschaftliches Programm waren im Grunde nicht miteinander vereinbar. Ironischerweise wurde Trotzki fast zur selben Zeit (im November 1927) aus der bolschewistischen Partei ausgeschlossen, als – im Dezember 1927 – seine Vorstellungen zur beschleunigten Industrialisierung zum Parteitagsbeschluss erhoben wurden. Verbunden mit Hoffnungen auf Ertragssteigerungen durch Großflächenwirtschaft, die per Zwangskollektivierung durchgesetzt wurde, vollzog sich im Agrarbereich ein gesellschaftlicher Wandel, von dessen katastrophalen Folgen sich die Sowjetmacht nie wirklich erholte. Die Idee war, durch Agrarexporte die Importe von Ausrüstungen und Materialien zu finanzieren, die für die Industrialisierung erforderlich waren. Doch statt der erwarteten Ertragssteigerungen, die die Agrarexporte ermöglichen sollten, kam es zu massiven Ertragsausfällen. Außerdem schrumpfte im Zuge des erzwungenen Umbruchs die Getreideanbaufläche in der Ukraine um 14 Prozent.
Das Ganze wurde zusätzlich verschärft durch eine erneute schwere Dürre im Winter und Frühjahr 1931/32. Doch trotz der bereits vor aller Augen stattfindenden Hungersnot wurden die Abgabequoten drastisch erhöht, um das beschlagnahmte Getreide zur Devisenbeschaffung auf dem Weltmarkt zu verkaufen– eine fatale Wiederholung der Geschichte: In Irland, damals eine englische Kolonie, ereignete sich Mitte des 19. Jahrhunderts eine Hungerkatastrophe mit einer Million Toten, während der die englischen Kolonialherren weiterhin Getreide ins britische „Mutterland“ exportierten.
Hinsichtlich der Zahl der menschlichen Opfer stellt die menschengemachte Hungerkatastrophe in der Ukraine in den Jahren 1932/33 die Exekutionen von Hunderttausenden Funktionären und Wissenschaftlern während Stalins Schreckensherrschaft in den Schatten. Schätzungen über die Zahl der Opfer variieren stark. Am verlässlichsten erscheint die Angabe von 3 bis 3,5 Millionen Toten, die unter anderem auf KGB-Archivmaterial basiert, das erst vor etwa 15 Jahren zugänglich wurde.
Die Dauerkrise bei der Versorgung mit Lebensmitteln war nicht nur auf die – im ursprünglichen Sinn des Wortes – kontraproduktive Landwirtschaftspolitik zurückzuführen. Auch die Agrarwissenschaften litten über Jahrzehnte unter einer Verstümmelung, die zunächst in der Inhaftierung bzw. Hinrichtung zahlreicher Agrarwissenschaftler bestand, von denen einige weltberühmt waren. Zu ihnen gehörte neben dem oben erwähnten Agrarökonomen Tschajanow insbesondere N.I. Wawilow, der Entdecker der nach ihm benannten Zentren der genetischen Vielfalt von Kulturpflanzen. Später bekam die in der UdSSR zur Staatsdoktrin erhobene Pseudo-Agrarwissenschaft einen Namen – „Lyssenkoismus“. T.D. Lyssenko leitete ab 1934 das Allunions-Institut für Genetik und Saatzucht in Odessa und ab 1940 das Institut für Genetik der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. In der berüchtigten Augustsitzung der sowjetischen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften des Jahres 1948, dessen stenografisches Protokoll auch in deutscher Übersetzung vorliegt, wurde Lyssenkos Negation der Mendelschen Vererbungsgesetze endgültig zur Staatsdoktrin erhoben. Selbst nach dem Tod Stalins blieb er in führenden Positionen und war bis zu Chruschtschows Sturz im Jahr 1964 dessen landwirtschaftlicher Berater. (Siehe Kasten)
Die mangelnde Flächenproduktivität der Landwirtschaft der Sowjetunion blieb ein Dauerthema und entwickelte sich zunehmend zum Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Versuche, agrarpolitisch gegenzusteuern, wurden der Komplexität des Problems nicht gerecht. Als in den 1950er Jahren die Stagnation der Landwirtschaft immer bedrohlicher wurde, beschloss man, die erforderlichen Produktionssteigerungen durch eine Erweiterung der Getreideanbauflächen zu erreichen. Diese Erweiterung um 40 Millionen Hektar (mehr als die Fläche der jetzigen BRD) erfolgte innerhalb von drei Jahren (1954-56). Es war eine gigantische Investition, verbunden mit der Umsiedlung von 350.000 Menschen. Die durchschnittliche Betriebsgröße der neuen Sowchosen in Kasachstan belief sich auf 51.000 Hektar. Obwohl es zu einer Steigerung der Gesamternte beitrug, war das Unternehmen „Neuland unterm Pflug“ mit hohen Kosten und erheblichen Ernteverlusten verbunden. In den ersten Jahren musste die gesamte Technik zur Ernte aus den westlichen Getreidegebieten in diese Regionen transferiert und danach wieder zurück gebracht werden, ebenso wie zehntausende Erntehelfer. Immer wieder kam es, wenn die logistischen Probleme nicht rechtzeitig gelöst wurden, zu regelrechten Erntekatastrophen wie zum Beispiel am 1. November 1959, als – zeitgeschichtlichen Dokumenten zufolge – in Kasachstan 1,2 Millionen Hektar nicht geerntete Getreidefläche unter Schnee begraben wurde.
Auch während der Breshnew-Zeit (1964-1982) blieben die agrarpolitischen Maßnahmen inkonsistent. Die pro Hektar ausgebrachte Menge an Mineraldünger wurde von 1960 bis 1970 vervierfacht (und bis 1980 nochmals verdoppelt). Aber man versäumte es, Getreidesorten einzusetzen, die auf den verstärkten Düngemitteleinsatz ansprachen, so dass die möglichen Ertragssteigerungen bei weitem nicht erzielt wurden. Zwar stieg die Getreideproduktion von der ersten Hälfte der 1960er Jahre bis zur zweiten Hälfte der 1970er Jahre, also innerhalb von zwei Dekaden, um knapp 60 Prozent auf 205 Millionen Tonnen (und sank in der darauffolgenden 5-Jahres-Periode wieder), aber die Schere zwischen einem steigendem Bedarf und der nachhinkenden Produktion öffnete sich immer weiter. Dies musste durch wachsende Getreideimporte ausgeglichen werden, ab 1973 ermöglicht durch den „Ölpreisschock“, der der sowjetischen Außenhandelsbilanz zu gute kam. Während in der Zeit von 1961-65 pro Jahrdurchschnittlich 4 Millionen Tonnen importiert wurden, waren es im Zeitraum 1981 bis 1985 durchschnittlich 40 Millionen Tonnen. Argentinien entwickelte sich zum Hauptlieferanten.
Bei den in diesem Beitrag skizzierten Entwicklungen war der Anteil krasser Fehlentscheidungen und menschenverachtender Machtpolitik sicher nicht unbeträchtlich. Aber es bedürfte einer vertieften Analyse, um zu differenzieren, wie groß dieser Anteil tatsächlich war und wieviel den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen (vor allem dem Angriffskrieg von Hitlerdeutschland und dem Rüstungswettlauf nach dem Zweiten Weltkrieg) geschuldet war. Hinzu kommt das, was Ökonomen „Pfadabhängigkeit“ nennen: Die Schwierigkeit, einen einmal eingeschlagenen Weg der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wieder zu verlassen. Insofern ist die Landwirtschaft der Sowjetunion auch ein mahnendes Beispiel für die heutige globale Landwirtschaft: Dieser wurde spätestens mit dem 2009 von den Vereinten Nationen veröffentlichten Weltagrarbericht umfassend attestiert, dass es ein „Weiter so“ nicht geben dürfe. Trotzdem hat es in den letzten acht Jahren den erforderlichen Richtungswechsel nicht gegeben.
Der Text basiert auf dem Eintrag zur Geschichte der Sowjetunion auf www.marx-forum.de, einem Buch von A.A: Nikonow und E. Schulze zur Geschichte der russisch-sowjetischen Agrarwissenschaften (2004), dem Wikipedia-Eintrag zum Holodomor und anderen Quellen.
Erschienen in Heft 39 von Lunapark21