Der Ukraine-Krieg und die Welternährungskrise
Zwölf Tage nach Beginn des Krieges, am 08. März, publizierte die Welternährungsorganisation (FAO) eine 40-seitige Analyse, die sich mit den Risiken befasste, die aus dem Ukraine-Krieg für die globale Lebensmittelversorgung ergeben könnten und gab einen düsteren Ausblick. Ausgangspunkt der Überlegungen war der Umstand, dass in den Jahren zuvor aus Russland und der Ukraine zusammengenommen 30 Prozent der globalen Weizenexporte und über Hälfte der Exporte von Sonnenblumenkernen bzw. -öl kamen, außerdem Mais und Gerste.
Hinzu kommt, dass die Russische Föderation Platz 1 beim Export von Stickstoffdüngern und Platz 2 beim Export von Phosphor- und Kalidünger einnimmt. Bezogen auf die globale Exportmenge lag der Anteil Russlands laut FAO-Statistik in den letzten Jahren für alle drei Pflanzennährstoffen grob gerechnet jeweils zwischen 10 und 15 Prozent. In 25 Ländern betrug der Anteil aus Russland importierter Düngemittel bei 30 Prozent und mehr. Die Synthese von Stickstoffdünger erfolgt fast ausnahmslos unter Verwendung von Gas in einem extrem energieintensiven Prozess, dem Haber-Bosch-Verfahren. Die hohen Gaspreise schlugen sich schon vor Beginn des Krieges in den Preisen für Stickstoffdünger nieder. Bereits im Sommer 2021 kostete deshalb eine Tonne Stickstoffdünger rund zweimal so viel wie im Durchschnitt der Jahre zuvor. Seitdem hat sich dieser Preis ein weiteres Mal verdoppelt. Das bedeutet nicht nur, dass sich wegen höherer Betriebsmittelkosten die Lebensmittelpreise weiter erhöhen werden, sondern dass in zahlreichen Ländern die Erträge der nächsten und vermutlich auch der übernächsten Ernte geringer ausfallen werden, weil insbesondere Kleinbauern es sich nicht leisten können, den teuren Dünger zu kaufen.
Der größte westliche Düngemittelproduzent, das norwegische Unternehmen Yara, fuhr seine Produktion Mitte März aufgrund der hohen Gaspreise an zwei seiner europäischen Standorten zurück und produziert hier nur noch mit 45 Prozent der verfügbaren Kapazität – ein Ausdruck für deutlich zurück gehende Umsätze aufgrund der hohen Preise.
Die Krise ist erst im Entstehen. IPES-Food, ein Thinktank von 23 Experten aus 16 Ländern, spricht von einem Perfect Storm, also einer Situation die schlimmer nicht denkbar ist, und einer sich schnell entfaltenden globalen Ernährungskrise. Schon 2021 hatte der Lebensmittel-Preisindex der FAO, in den die Weltmarktpreise von 95 Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln einfließen, den Wert von 2008, dem Jahr als es zu „Brotrevolten“ in 39 Ländern kam, deutlich überschritten. Solche Preisanstiege stellt Haushalte, die 50-70 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden müssen, vor große Probleme. Doch dieser Index, der im Jahr 2008 bei 117,5 lag, kletterte bereits 2021 auf 125,7. Dass es nicht zu massiven sozialen Unruhen kam, war vor allem staatlichen Subventionen für Brot und andere Lebensmittel zu verdanken.
Laut dem Foreign Policy Magazine vom 12. April sind im Gegensatz zu 2008, dank Rekordernten in den Vorjahren, weltweit die Getreidespeicher gut gefüllt, so dass 2022 rein rechnerisch eigentlich keine Knappheit besteht. Die Speicherkapazitäten sind jedoch in wenigen Ländern konzentriert. China wurde bereits vor Beginn des Krieges auf dem Bloomberg-Portal der Hortung von Vorräten bezichtigt. Mitte 2022 sollen dort laut Schätzungen des U.S.-Landwirtschaftsministeriums voraussichtlich 69 Prozent der Maisreserven, 60 Prozent der Reisreserven und 51 Prozent der Weizenreserven konzentriert sein. IPES-Food kritisiert, dass dies nur Mutmaßungen sind, weil genaue Daten aufgrund der „strategischen Intransparenz“ einer Reihe von Regierungen nicht zur Verfügung stehen. Bekannt ist jedoch, dass China die Reserven nahezu ausschließlich zur Absicherung der Ernährungssicherheit im eigenen Land hält. Grundsätzlich resultieren die erwarteten Probleme derzeit aber nicht aus den fehlenden Mengen, sondern aus den gestörten Lieferketten. Die Schiffe müssen plötzlich andere Routen fahren, um jene Länder zu versorgen, die stark von Weizenimporten aus der Ukraine und Russland abhängen, wobei auch zu klären ist, ob die Länder, wo das Getreide lagert, dies zur Verfügung stellen. Die damit verbundenen Preisschocks werden laut IPES Food „durch eine Reihe von Dysfunktionen der globalen Getreidemärkte“ verschlimmert. Allen voran sind damit Spekulationen an den Rohstoffbörsen gemeint, insbesondere an der Chicagoer Börse. Letztere war im Jahr 2008 maßgeblich an den Preisschocks beteiligt – Ergebnis der Liberalisierung der Märkte für landwirtschaftliche Produkte durch den im Jahr 2000 verabschiedeten Commodity Futures Modernization Act der USA. Nach der 2008er Krise in wurden in den USA und in der EU gegen Spekulationen gerichtete Beschränkungen wieder eingeführt, aber als zu schwach kritisiert. Der Geschäftswelt gelang es, die Gesetzentwürfe zu verwässern. Unter anderem ging es um die Position Limits, d.h. die maximale Zahl von Verträgen für Futures, die ein Investor beim solchen Kaufgeschäften gleichzeitig besitzen darf. Beschränkungen dafür waren im Jahr 2000 abgeschafft und nach 2008 zwar wieder eingeführt worden. Beklagt wird aber die fehlende Bereitschaft, die Regelungen anzuwenden. Mit weiteren Regelungen wurde ein gewisses, wenngleich ungenügendes Maß an Transparenz beim Handel mit landwirtschaftlichen Produkten geschaffen.
Landwirtschaft in der Ukraine unter ausländischer und Oligarchen-Kontrolle
Verhandlungen, um Zugang zu den von Russland kontrollierten ukrainischen Häfen zu bekommen, sind sinnvoll, damit das eingelagerte Getreide in die Länder gelangen kann, die auf die Lieferungen warten. Zugleich ist aber klar, dass es nur zum geringeren Teil um die „Bauern“ geht, die ihre Ernte nicht verkaufen können und die in den Medien vorzugsweise präsentiert werden. Bereits 2015 wurde die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Ukraine von ausländischen Unternehmen kontrolliert und weitere rund zehn Prozent sind das Eigentum von Oligarchen, von denen einige Hundertausende Hektar besitzen. Zu den deutschen Investoren, die über Leasingverträge am ukrainischen Landgrabbing beteiligt sind, gehören die AGRARIUS AG, die Germanagrar CEE GmbH und die KTG Agrar SE.
Dessen ungeachtet ist durch den Überfall Russlands auf den benachbarten Oligarchenstaat für zahlreiche arme Länder, deren Versorgung von Getreideimporten abhängt, eine akute Krisensituation entstanden. Laut FAO importierten im letzten Jahr 26 Länder über 50 Prozent ihres Weizens aus Russland bzw. der Ukraine, 17 davon zu über 70 Prozent. Zu letzteren gehören bevölkerungsreiche Länder wie Ägypten und Länder mit bereits existierenden akuten Versorgungskrisen wie Madagaskar und Libanon. Zwar sind russische Getreideexporte kein direkter Gegenstand von Sanktionen, werden aber durch die Sanktionen im Finanzverkehr (SWIFT) erheblich behindert. Russland wird beschuldigt, den Zugang zu Nahrungsmitteln als „Waffe“ einzusetzen, wobei wegen der fehlenden „Bestätigung von unabhängiger Seite“ letzten Endes unklar bleibt, ob die Verminung der ukrainischen Häfen, die den Getreideexport behindert, durch Russland oder (zum Schutz vor der russischen Marine) durch die Ukraine erfolgte. Die Situation wird durch Exportverbote für landwirtschaftliche Produkte verschärft, die von den Kriegsparteien selbst und von 20 weiteren Ländern verhängt wurden, oftmals weil sie um ihre eigene Versorgungssicherheit bangen. Zu diesen Ländern zählen Argentinien, Indien, Indonesien, Iran, Kasachstan und die Türkei.
Lebensmittelpreise auf Langzeithoch
Diese kriegsbedingte Entwicklung stößt auf eine Situation, bei der die Menschen, insbesondere in den armen Ländern, schon länger als zwei Jahre unter Einkommensverlusten durch COVID-19 zu leiden hatten. Doch die finanzielle Situation ist nicht nur auf der Ebene von Familienhaushalten prekär. Auch viele Staatshaushalte stoßen an ihre Grenzen. Nach den „Brotrevolten“ in 2007/2008 begannen, wie oben erwähnt, zahlreiche Regierungen im globalen Süden, die Lebensmittelpreise zu subventionieren, um erneute Preisanstiege für Lebensmittel abzufedern. Tatsächlich kehrte der FAO-Lebensmittelpreisindex (2008 = 117), nie wieder auf das Niveau vor 2007, als er zwischen 60 und 70 pendelte, zurück. Für 2010 bis 2014 lag er im Durchschnitt bei 119, also dauerhaft, über dem ehemaligen Höchstwert von 2008. Nach einigen Jahren mit leichtem Absinken wurde bereits im vorigen Jahr mit einem Index von 125 ein neuer Rekordwert erreicht. Viele Staaten sind am Limit ihres finanziellen Spielraums. Daraus entstehende Risiken befürchtend, warnte die Bundesakademie für Sicherheitspolitik in einem Arbeitspapier vor möglichen inneren Unruhen im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere in Ägypten, Jordanien, Tunesien und Libyen. Im finanziell angeschlagenen Ägypten, dem weltweit größten Weizenimporteur (80 Prozent davon aus Russland und der Ukraine), erschweren die hohen Preise zusammen mit der leeren Staatskasse die Subventionierung von Brot. Steigende Brotpreise lösten dort wiederholt soziale Proteste aus und spielten beim „Arabischen Frühling“ im Jahr 2011 eine Rolle. In Libanon, noch immer geschwächt durch die verheerende Explosion im wichtigsten Hafen im Jahr 2020, reichten schon im Februar die Vorräte in den Getreidespeichern nur noch für einen Monat. Die Regierung bat die USA um 20 Millionen US-Dollar, um Weizenimporte zu finanzieren. Libyen, das nach dem misslungenen Versuch eines „Regime Change“ von 2011 bis 2020 von einem Bürgerkrieg erschüttert wurde und zuletzt über 60 Prozent seines Weizens aus der Ukraine und knapp 15 Prozent aus Russland bezog, ist ein besonders tragisches Beispiel für das Nicht-zur-Ruhe-Kommen aufgrund der multiplen Krisen, die den Globus erschüttern.
Veränderte weltweite Ararproduktion fördert Welthunger
Die langfristige Entwicklung die zu diesen Importabhängigkeiten führte, kommt dabei kaum zur Sprache. Die Analyse von IPES-Food verweist darauf, dass die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten, besonders in den afrikanischen Ländern, in den 1980er Jahren entstand, als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds Strukturanpassungsprogramme verordneten. Diese Programme förderten so genannte Cash Crops, Produkte für den Weltmarkt, verbunden mit Profiten für die meist großen und zum Teil ausländischen Agrar- und Handelsunternehmen, und mit gewissen Einnahmen für die Regierungen der Exportländer, die unter anderem dem Schuldenabbau dienten. Zugleich wurden diese Länder für Lebensmittelimporte geöffnet und somit ausländischen Konzernen neue Absatzmärkte erschlossen. Im Ergebnis dieser von den internationalen Finanzinstitutionen angestoßenen Entwicklung haben sich im sub-saharischen Afrika die Ausgaben für Lebensmittelimporte in den letzten Jahrzehnten mehr als verdreifacht und beliefen sich 2019 auf 43 Milliarden US-Dollar. Aus den landwirtschaftlichen Exporten ergibt sich ein Handelsdefizit, das zwar kleiner ist als anfänglich vermutet. Aber für das sub-saharischen Afrika betrug es im Durchschnitt immer noch fünf Milliarden Dollar pro Jahr –keine Entwicklung in Richtung Ernährungssouveränität: Die exportstärksten Länder sind Ghana, Kenia und die Elfenbeinküste. Sie exportieren vor allem Kakao, Kaffee, Tee und Baumwolle, während Weizen, Reis und Gefrierfleisch importiert werden.
Inzwischen sorgt sich auch die Weltbank über einen Zustand, dessen Entstehung sie selbst mit verursacht hat. In einem ihrer Blogs wurde im November 2020 darauf hingewiesen, dass ein großer Teil der importierten Nahrungsmittel vor Ort produziert bzw. über innerafrikanischen Handel abgewickelt werden könnte, was auch zur Schaffung dringend benötigter Arbeitsplätze beitragen würde.
Im IPES-Food Bericht wird darauf hingewiesen, dass es eines erheblichen politischen Willens und eines langen Atems bedürfte, um den Dauermodus der globalen Ernährungskrise zu verlassen. Täte man dies, würden regionale Krisen wie der Ukraine-Krieg bei den Nahrungsmittelpreisen nicht gleich Schockwellen um den gesamten Globus schicken. Doch die Hürden sind hoch, denn mit der jahrzehntelangen Verdrängung der traditioneller Nahrungsmittel (Hülsenfrüchte, Süßkartoffeln, Maniok, Hirse usw.) haben sich die Ernährungsgewohnheiten geändert und das Fachwissen zum Anbau dieser Pflanzen ist geschrumpft.
Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2015 wurden 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Ziel Nr. 2 ist mit „Null Hunger bis 2030“ überschrieben. Man wähnte sich auf dem Weg dahin. Während die offiziellen Statistiken Anfang der 2000er Jahre über 800 Millionen chronisch hungernde Menschen auswiesen, lag diese Zahl von 2015 bis 2019 bei durchschnittlich 626 Millionen, allerdings stagnierend und nicht mit dem notwendigen Abwärtstrend über die fünf Jahre. Im Kontext der Corona-Pandemie kamen 2020 schlagartig 140 Millionen Menschen dazu (die Zahlen für 2021 liegen noch nicht vor). In ihrer eingangs erwähnten Analyse rechnet die FAO je nach Scenario mit zusätzlich 7,6 oder 13,1 Millionen Personen, die infolge des Ukraine-Konflikts global in die Kategorie der chronisch Hungernden abrutschen werden.
Optimisten sehen in der aktuellen Krise ein Window of Opportunity, um eine Trendwende in der Welternährungspolitik zu erreichen und alte Fehler zu korrigieren, die zu der ungenügenden Resilienz geführt haben. Angesichts der dritten Preisexplosion bei Nahrungsmitteln innerhalb von 15 Jahre geben die Experten von IPES Food fünf Empfehlungen für den Umgang mit der Welternährungskrise und ihrer aktuellen Zuspitzung:
- Schuldenerlass und finanzielle Unterstützung für die gefährdetsten Länder;
- Hartes Durchgreifen gegen die Spekulation mit landwirtschaftlichen Produkten, einschließlich der Besteuerung von „Finanzprodukten“;
- Aufbau regionaler Getreidereserven, verbunden mit der Schaffung von Solidaritätsmechanismen zwischen den Ländern, um einseitige Exportverbote zu verhindern;
- Wiederaufbau inländischer Nahrungsmittelproduktion in Ländern, wo diese größtenteils verschwunden ist, mit dem Ziel einen gewissen Grad von Selbstversorgung zu erlangen;
- Etablierung resilienter, agrarökologischer Anbauverfahren, die weniger von externen Inputs abhängig sind; ferner eine Reduzierung der Nutzung von Ackerland für Nicht-Nahrungszwecke (z.B. Agrotreibstoffe) bzw. Viehfutter (Soja und Getreide).
Dass diese Trendwende erreicht wird, ist leider nicht sehr wahrscheinlich. Bislang sind es vor allem die „Trittbrettfahrer“, die versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen. An erster Stelle steht da bekanntlich die Rüstungsindustrie. Aber auch die Landwirtschaft bleibt nicht verschont. In einem ausführlichen Interview mit dem Tagesspiegel vom 03. Mai beschwört Bayers Chef-Lobbyist Berninger, die „größte Hungersnot der Menschheitsgeschichte“ herauf, um anschließend zu beteuern, dass der Konzern „alles Menschenmögliche getan (hat), um dort (gemeint ist die Ukraine) Saatgut für Mais rechtzeitig auszuliefern. Eine zynische Beteuerung, wenn man weiß, das Saatgutkonzerne in Ländern wie Kenia, Gefängnisstrafen für Bäuerinnen und Bauern nicht nur androhen, sondern auch durchsetzen, wenn diese kommerzielles Saatgut untereinander tauschen, statt es von den Konzernen zu kaufen. Grundlage dafür ist ein Abkommen zur Kommerzialisierung von Saatgut (UPOV 91). Andere Trittbrettfahrer sind die Agrarverbände in der EU, die erreicht haben, dass die „Ökologischen Vorrangflächen“, die für den Erhalt der Biodiversität reserviert waren, wegen des Ukraine-Kriegs wieder in Nutzung genommen werden dürfen – in Deutschland zwar nur zur Futternutzung ohne Pestizideinsatz, in anderen EU-Ländern ohne jede Einschränkung.
Alles in allem keine guten Anzeichen für die dringend erforderliche Trendwende.
Erschienen in Lunapark21 Heft 58